Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
was richtig und falsch war. Und dann entschied er sich, den Lollarden zu helfen. Wieder und wieder zermarterte er sich den Kopf, suchte nach Erinnerungsfetzen, nach irgendwelchen Hinweisen auf das Versteck der Wyclifschen Schrift. Umsonst. Gemeinsam mit Will hatte er den Korallenanhänger – das Einzige, was ihm aus seiner Kindheit geblieben war – aus seiner Fassung gelöst, weil sie hofften, darin verberge sich irgendetwas. Sie hatten das rote Zweiglein wohl hundert Mal gedreht und gewendet, hatten es gegen das Licht gehalten, hatten versucht, Muster zu erkennen. Sogar mit Feuer hatten sie es gebrannt, auch in Essig und Wein geworfen, um zu sehen, ob etwas geschah. Nichts. Es war zum Verzweifeln. Ciaran fand keine Antwort. So war er für beide Seiten nutzlos: für die Lollarden und für die Kirche von England. Er konnte den einen nicht helfen und den anderen nicht schaden. Wozu war er überhaupt noch gut im Leben?
Dann, vor ein paar Wochen, hatte man über geheime Kanäle Nachricht erhalten, dass die Männer des Erzbischofs von Canterbury, des schlimmsten Feindes der Lollarden, seinen Aufenthaltsort kannten. Und wenn auch die Burg gut bewacht war – man hatte es für besser gehalten, Ciaran nach London zu schicken und bei den dortigen Glaubensbrüdern in Sicherheit zu bringen. So waren sie in aller Eile aufgebrochen.
Irgendwo im Labyrinth der Gassen hielt Will vor einem der typischen Stadthäuser des Landadels an. Es war ein herrschaftliches Gebäude mit Stallungen und Garten, das wegen der vielen Londoner Diebe mit einer hohen Mauer umgeben war. Ein Diener übernahm im Hof die Pferde, ein anderer führte sie ins obere Stockwerk. Sie betraten einen kleinen Saal, dessen Längsseite fast ganz von einem überdimensionalen Kamin eingenommen wurde, in dem eine mächtige Glut loderte. Gegenüber der Feuerstelle stand ein breiter Lehnstuhl an einem der Fenster, und darin saß der dickste Mensch, den Ciaran je gesehen hatte.
»Schön, schön, dass ihr endlich da seid, meine Brüder«, ertönte seine tiefe, kollernde Stimme, die klang, als käme sie aus einer Höhle. »Kommt näher und erlaubt mir, dass ich sitzenbleibe. Mein Bauch ist nicht ganz leicht hochzuhieven.«
Die drei Neuankömmlinge taten wie geheißen. »Das ist Thomas Whistle«, raunte Will Ciaran ins Ohr, »einer der wenigen von uns, die Wyclif noch gekannt haben.«
Jetzt erst sah Ciaran, wie alt der Mann war, der da wie eine riesige fette Kröte in seinem Sessel eingezwängt saß und schier über die Polster hinausquoll. Whistle schob die wulstige Unterlippe vor, kniff die Augen zusammen und musterte seine Gäste, sein Blick blieb schließlich an Ciaran haften.
»Bei Gott, das gespuckte Ebenbild seines Vaters«, murmelte er kopfschüttelnd, was seine Backen in wildes Zittern versetzte.
»Ihr kanntet meinen Vater, Sir?«, fragte Ciaran.
Der Alte nickte. »Ein guter Freund, so wahr ich hier sitze! Du hast sein Kinn und seine Augen, Söhnchen, und dieselben schwarzen Locken. Mir ist, als sähe ich ihn selber vor mir, Gott sei seiner armen Seele gnädig.« Er fuhr sich mit den fleischigen Fingern über die Augen. »Wir haben ihn nicht schützen können damals. Ihn nicht, und deine Mutter nicht. Aber dich, Henry Granville, dich werden wir nun hüten wie unseren Augapfel.«
»Ich fürchte, ich bringe Euch in Gefahr«, entgegnete Ciaran. »Die Männer des Erzbischofs sind immer noch hinter mir her. Dabei bin ich völlig harmlos. Ich weiß einfach nichts, was zu Wyclifs Vermächtnis führen könnte.«
Der Alte verschränkte die Hände über seinem Bauch und schnoberte laut durch die Nase. »In Gefahr sind wir auch ohne dich, mein Junge. Seit dem Bauernaufstand und noch mehr seit der Thronbesteigung Henrys IV. geht man immer härter gegen uns vor. Sogar Todesurteile hat es schon gegeben. Die Kirche spürt, dass unsere Lehre vom Volk verstanden wird, und das macht den Mächtigen Angst. Sie wollen uns vernichten, nennen uns Ketzer. Bei Gott, ich fürchte, unsere Zeit läuft ab.«
Er machte eine Handbewegung, als ob er die düsteren Gedanken verscheuchen wollte. »Aber ihr müsst durstig sein, macht es euch bequem und nehmt vom Wein. Und dann erzählt, was es für Neuigkeiten vom Land gibt.«
Er wies auf ein paar Stühle und eine Karaffe mit Gläsern, die auf dem Beistelltischchen neben seinem Lehnstuhl stand.
Ciaran ließ sich auf eine der Sitzgelegenheiten sinken. Er schwitzte, denn das Kaminfeuer hatte den Raum bald heißer als ein Dampfbad
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