Die silberne Burg: Historischer Roman (German Edition)
versunken mit der Weltenkugel. Es war im Alter von vielleicht zwei Jahren dargestellt, dick und pausbäckig, und nur mit Windel und Hemdchen bekleidet. Und – um den Hals trug das Kind ein Amulett, das vor Krankheit und Unbill schützen sollte: ein blutrotes Korallenzweiglein.
»Wie oft hab ich dieses Gemälde angeschaut, damals, als ich Wyclifs Predigten gehört habe«, sagte Sir Thomas mit rauer Stimme. »Immer stand ich mit den Freunden ganz vorne vor dem Altar, um nur ja nichts zu verpassen und um ihm nah zu sein. Wir waren nur eine Handvoll, die ihm nach Lutterworth gefolgt waren – dein Vater, Henry, war einer von uns. Nach der Messe verschwand Wyclif immer durch die Tür zur Sakristei, und jedes Mal sah er, bevor er ging, das Bild an und schmunzelte. Einmal, als wir alle beieinandersaßen, fragte ihn einer, warum ihn der Anblick so fröhlich mache. Da gab er zur Antwort: ›Muss das nicht ein kleingläubiger Maler gewesen sein? Wozu in aller Welt sollte der Herr über Himmel und Erde wohl den schützenden Zauber der Koralle nötig haben?‹»
»Ihr meint … « Ciaran sah kritisch auf das Madonnenbild.
»Dein Vater hat ein gutes Versteck gewählt«, erwiderte Whistle. »Wir Alten hätten uns wohl alle an Wyclifs Worte erinnert, jedem aus unserem Kreis von Getreuen hätte dein Amulett verraten, wo das geheime Vermächtnis unseres verehrten Meisters liegt. Der treue Granville – er konnte ja nicht ahnen, dass es so lange dauert, bis wir nach der Schrift suchen können. Außer mir ist inzwischen keiner mehr da!« Er rieb sich über die Augen, dann straffte sich sein mächtiger Körper. »Worauf wartet ihr? Hängt das Bild ab!«
Connla und Will streckten sich und nahmen die Madonna ganz langsam ab, um nichts zu beschädigen. Ciaran strich mit der flachen Hand über die dahinterliegende Wandfläche. War da nicht etwas? Er kniff die Augen zu und sah genau hin. Ja, einer der Steine stand eine fast unmerkliche Winzigkeit vor. Will zog sein Messer und kratzte so lange am bröseligen Mörtel, bis er den Stein gelockert hatte. Dann befreite er den Brocken vorsichtig und zog ihn heraus. Da war ein Hohlraum, tatsächlich! Er wollte schon hineingreifen, als er innehielt. »Ciaran, das ist dein Vorrecht«, flüsterte er und machte dem Freund Platz.
Ciaran merkte, dass er trotz der Kälte schwitzte. Tastend fuhr er mit der Hand in die Höhlung, immer tiefer hinein. Da war etwas … etwas Hartes, Kantiges. Er schluckte. War dies das Ende seiner Suche? Seine Finger schlossen sich fest um das Ding, und er holte seinen Fund heraus. Connla hielt seine Kerze dicht an den Gegenstand.
»Halleluja«, flüsterte der alten Whistle ergriffen. Die kleine Flamme beleuchtete eine Metallkassette, schmutzig und verstaubt. Ciaran hielt sie mit beiden Händen, als wolle er sie nie wieder loslassen. Ehrfürchtig standen die vier Männer da und starrten auf den geborgenen Schatz.
Connla war der erste, der sich wieder fasste. »Beeilt Euch«, drängte er, »wir haben nicht ewig Zeit!«
Während Connla die Mörtelspuren auf dem Steinboden beseitigte, steckten Will und Ciaran den Stein wieder in das Loch zurück und hängten das Bild davor. Dann verließen sie leise die Kirche. Whistle trug das Kästchen dabei wie einen heiligen Schrein vor sich her.
Zurück in ihrem Zimmer im Wirtshaus saßen sie bei Kerzenschein um einen wackligen Holztisch. Mit bebenden Händen öffnete der Alte den Deckel der Kassette. In dem Behälter lag ein Stapel pergamentener Seiten. »Bei allen Heiligen, ja, es ist seine Schrift«, murmelte er. Die Buchstaben waren zittrig, mit fahriger Hand mühsam geschrieben – die Schrift eines Sterbenden.
Ciaran legte den Kopf schräg und las die ersten Worte – Worte, für die seine Eltern ihr Leben gegeben hatten: »Alt, abgelebt, müde, kalt und nun gar halbblind, schreibe ich, John Wyclif, geringster unter den Dienern des Allmächtigen, das, was mir noch zu sagen bleibt, auf dass es jener wisse, der mein Werk fortführt ...«
Er merkte es gar nicht, aber über sein Gesicht liefen Tränen.
Und er sah auch nicht das dunkle Augenpaar des Wirts, das sich in diesem Augenblick vom Fenster zurückzog …
Würcksame Mittel gegen alle mögklichen
Gebresten des Leybes
Rezepte aus der mittelalterlichen »Dreckapotheke«
Item so nimm ein Stück Fleysch vom ungebornen Lamm. Koche dieß im Harn eines Krancken biß auf dass es gentzlich eingekochet ist. Nun gib neuen Harn daran und koch das wieder. Tu das ein dritts Mal.
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