Die silberne Göttin
sein."
"Mein armer Liebling!" Lady Rosley schlang die Arme um sie. "Du kannst nicht wahnsinnig sein, du am allerwenigsten. Dazu bist du viel zu beherrscht, zu intelligent."
Um Ianthas Lippen huschte ein winziges Lächeln. "Danke, Mama, aber ich glaube nicht, dass Intelligenz und Wahnsinn sich ausschließen."
"Nun, nein, das tun sie nicht. Ich habe von einigen brillanten Menschen gehört, welche … Aber …" Sie schwieg einen Moment und starrte aus dem Fenster, bevor sie sich wieder Iantha zuwandte. "Schreckliche Erlebnisse kehren manchmal zu uns zurück. Als dein kleiner Bruder starb – du warst erst zwei, und deshalb erinnerst du dich nicht daran –, da wachte ich immer auf und glaubte, er sei noch bei mir, bis ich ins Kinderzimmer ging und in die Wiege schaute. Und dann, wenn ich sah, dass sie leer war …" Sie schwieg wieder und wischte sich die Augen. "Dann kam alles zurück. Ich verstand, dass er tot war, gerade so, als wäre es in diesem Augenblick geschehen." Sie schluchzte. "Ich verlor ihn, immer und immer wieder."
"Ach, Mama:"
Zum ersten Mal nach sechs Jahren erwiderte Iantha die Umarmung ihre Mutter und weinte mit ihr.
Begleitet von Lord Rosleys trockenem Humor und Mr. Welwyns herzlichem Lachen verlief das Abendessen ausgesprochen heiter. Zuvor hatte Rob sich noch mit den jüngeren Kethleys unterhalten. So gerne er auch mit den Kindern beisammen war, er konnte Valeria nicht anschauen, ohne an Laki zu denken und sich zu fragen, wie sie in diesem Alter wohl ausgesehen hätte. Nicht so blond wie Ianthas kleine Schwester, aber sicher hätte sie den gleichen sanften Charme besessen. Gegen seinen Willen überkam ihn Traurigkeit, und er war dankbar für die fröhliche Tischgesellschaft.
Doch was er sich wirklich wünschte, war, einige Zeit mit Iantha beisammen sein zu können. Immer wieder wanderte sein Blick zu ihr hin, auch wenn er vorgab, der Unterhaltung zu lauschen. Wie gewöhnlich aß sie ruhig, war zurückhaltend, doch Rob stellte fest, dass sie über die Späße ihres Vaters mehr lachte als früher.
Sie schenkte Stephen Wycomb, der neben ihr saß, keine große Aufmerksamkeit. Rob konnte spüren, dass sie sich mehr zu ihm hin lehnte und somit vorsichtig einen Abstand zu dem jungen Bankier schaffte. Vielleicht würde sie immer auf der Hut sein vor Männern, die sie nicht kannte.
Rob hoffte es von Herzen.
Endlich war es ihnen möglich, sich mit einer Entschuldigung zurückzuziehen. Rob glaubte, in den Augen der Bankiers einen wissenden Blick bemerkt zu haben, und in den Augen ihrer Eltern las er so allerlei Vermutungen. Nun gut, sie waren Frischvermählte. Er hätte sich nur gewünscht, dass sie sich aus dem Grund zurückziehen würden, aus dem Frischvermählte das üblicherweise taten. Aber es gab gewisse Fortschritte. Der große Sieg war in Reichweite gerückt.
Einmal in seinem Schlafzimmer, legte er Weste und Halsbinde ab. Burnside zog ihm die Stiefel aus, dann war er für diese Nacht entlassen. Rob zog erst gar keinen Schlafrock an. Gewöhnlich fror sein muskulöser Körper nicht so schnell.
Diplomatisch wie sie war, hatte Lady Rosley Rob und Iantha nebeneinander liegende Schlafzimmer gegeben. Rob lächelte, als er an die Verbindungstür klopfte. Er vermutete, dass er in seiner Schwiegermutter eine zuverlässige Verbündete hatte.
Iantha öffnete die Tür ein wenig und lugte durch den Spalt. Als sie sah, dass er es war, ließ sie ihn eintreten. Mit einem Mal schien sie auch ihm gegenüber wieder wachsam zu sein. Rob seufzte. "Ich bin nur gekommen, um dir Gute Nacht zu sagen."
Er sah, wie sie sich etwas entspannte, und ergriff die Gelegenheit, um den Arm um sie legen. Er merkte, dass sie immer noch ganz starr war. "Ist irgendetwas nicht in Ordnung?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Ich … Ich fühle mich nur nicht so wohl, wenn Fremde da sind."
Rob hoffte, dass das das einzige Problem war, doch er bezweifelte es. "Habe ich dich letzte Nacht erschreckt?"
Einige Augenblicke lang betrachtete Iantha schweigend ihre Hände. Dann blickte sie zu ihm auf. "Nicht erschreckt. Das nicht."
"Was dann?"
"Die Erfahrung war ganz interessant und auch nicht unangenehm. Ich fühlte mich nur so … Ich weiß auch nicht … Ich hatte mich nicht unter Kontrolle, und du hast Gefühle in mir geweckt, gegen die ich machtlos war."
"Wolltest du denn etwas dagegen tun?"
Es folgte eine nachdenkliche Pause. Schließlich meinte sie: "Nicht zu diesem Zeitpunkt."
Ein tiefes Lachen drang aus Robs Brust.
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