Die Sirenen von Kalypso
nie Gelegenheit erhalten, dies mit eigenen Augen zu betrachten. Ich muß kämpfen. Und eines Tages werde ich auf einen Gegner treffen, der stärker, flinker und geschickter ist als ich. Dann ist der Tag meines Todes gekommen.«
»Du bist bereits einmal gestorben.«
Tajima sah sie verwirrt an.
»Du glaubst mir nicht? Ich habe es in deinen Gedanken gesehen, Soldat. Am ersten Tag der Schlacht. Du bist gestorben. Aber deine Fähigkeit zur Körperregeneration ist stark, auch wenn du nicht gelernt hast, sie zu kontrollieren. Ein Mönch der Asketischen Kirche hat sie unterstützt und dir damit ein zweites Leben geschenkt.«
»Aber warum?« Lauer Wind strich über sein feuerrotes Haar. Es war wie eine Fahne.
»Das weiß ich nicht, Tajima.« Sie schwieg eine Zeitlang und betrachtete ihn nur. Ihr Blick ging tief und berührte selbst das Zentrum seines Ichs. Es war nicht unangenehm. Es rief ein eigenartiges Glücksgefühl in Tajima hervor.
»Du hast Angst, Soldat, nicht wahr? Nein, hab keine Angst. Ich werde schweigen. Es geht nur dich und mich etwas an. Ich bin kein Diplomspitzel. Ich bin eine freie Geschichtenerzählerin. Ich bin eine Realgeborene und habe damit seit Geburt den Status eines vollwertigen Menschen. Ich bin niemandem verpflichtet. Du kannst offen zu mir sein.«
»Du bist eine … Realgeborene?« Lystra nickte und lächelte weich. Tajima neigte den Kopf. Trauer war in ihm.
»Nein, sei nicht traurig. Ob realgeboren oder durch Genverschmelzung entstanden: Wichtig ist nur die Existenz, nicht das Wie.«
»Ich erinnere mich nicht einmal an die Gebärkammern«, sagte Tajima matt. »Ich kenne nur das Leben als Soldat.« Er sah wieder auf. »Du hast eine Mutter? Eine wirkliche Mutter?«
»Ja. Sie ist vor vielen Jahren gestorben.« Ihre Stimme war sanft und zart. »Ich erinnere mich genau an sie. Sie war ebenfalls ein vollwertiger Mensch. Und einige der wenigen Frauen, die realgebären konnten.« Sie sah Tajima an, analysierend, begreifend. »Ich verstehe deine Wünsche, Tajima, auch wenn sie für einen Soldaten ein wenig sonderbar sind. Die Asketische Kirche achtet streng auf die Genreinheit ihrer Verkaufsware. Als der Ohtaniclan dich bestellt hat … nun, vielleicht ist den Brutmönchen in den Gebärkammern ein Fehler unterlaufen. Die Asketen sind auch nur Menschen, selbst wenn sie mehr sein wollen. Du bist genrein. Deine Male sind eindeutig. Aber vielleicht … tief in deinem Innern … du hast etwas von einem Philosophen …«
»Ich habe viele Fragen.«
»Genug, ja.« Lystra lachte glockenhell. »Selbst einige vollwertige Menschen sind nicht so neugierig wie du.« Sie dachte nach. »Möchtest du eine Geschichte hören?«
Tajima zögerte einen Augenblick. »Lieber wäre es mir, wenn du auf meine Fragen antwortest. Ich habe noch so viele …«
»Das kann ich mir denken. Aber es gibt eine Geschichte, die dich in diesem Zusammenhang interessieren wird. Sie ist nicht lang. Hör zu.«
Ihr Blick richtete sich nach innen, und nach kurzem Schweigen fuhr sie fort:
»Weit draußen im Nichts, inmitten der Ewigen Nacht und der Kälte, gibt es eine Welt namens Kalypso. Niemand weiß, wo sich dieser Planet befindet. Kein Raumschiff hat ihn jemals angeflogen, keines Menschen Fuß ihn betreten. Er liegt abseits aller Raumflugrouten, und er ist so weit entfernt, daß ein Sternenschiff ein Jahrhundert benötigte, um ihn zu erreichen. Auf Kalypso leben die Sirenen. Es sind einsame Geschöpfe, und seit Äonen hat niemand ihre Ruhe gestört. Sie sind langlebig, die Sirenen. Aber wenn eine von ihnen stirbt, dann stimmt sie einen eindringlichen Gesang an. Dieser Gesang – er währt nur wenige Sekunden – verleiht Macht des Geistes, gibt Antwort auf alle Fragen und schafft Ruhe im Innern.«
»Auf alle Fragen?« unterbrach Tajima.
»Auf alle«, unterstrich die Geschichtenerzählerin. »Selbst auf die, die dir jetzt nicht in den Sinn kommen mögen. Wer den Gesang einer sterbenden Sirene vernimmt, der findet das, wonach er immer gesucht hat, gleich, wie es sein mag.«
»Aber wie kann man nach Kalypso gelangen, wenn niemand weiß, wo sich diese Welt befindet und eine Reise hundert Normjahre oder mehr dauern würde?«
Lystra lächelte.
»Oh, es gibt eine Möglichkeit. Aber sie ist mit Gefahren verbunden …«
»Welche Möglichkeit?«
»Hast du jemals von den Mreyd gehört?«
Tajima nickte. Ja, er hatte von ihnen gehört. Er hatte den Stimmen anderer Geschichtenerzählerinnen gelauscht, die von den Mreyd berichtet
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