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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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Wasser?
    Ich könnte den Apparat in eine Lade legen. Er wird nur immer wertvoller. Vielleicht kommt ein Jahr, in dem ich ihn wieder herausholen und neu beginnen mag. Nein, das bedeutete eine ständige Bedrohung, eine permanente Belastung. Gar einen Grund, schlechtes Gewissen zu haben.
    Der Cellist blickte durch den Sucher. Sentimental schwenkte er seine Motive ab, rief sich die vielen Stimmungen in Erinnerung, in denen er sie schon gesehen hatte.
    Ein Foto fiel ihm ein, das er sich Jahr für Jahr vorgenommen, aber doch nie gemacht hatte. Am Seeende fielen genau in der Mitte der Schmalseite des Wassers zwei Berge gegeneinander ab, gaben dem Horizont ein Dreieck mit der Spitze nach unten frei. An zwei, drei Tagen im August ging die Sonne mit ihrem allerletzten Rot genau in diesem Winkel unter. Dieses Bild – extrem hergeholt – wäre als Natur nicht zu erkennen gewesen. Nur als geometrischer Farbwahnsinn.
    Der Cellist stellte seinen Apparat ein. Sah die Farben, die nicht da waren, legte den Ausschnitt fest. Er drückte ab. Virtuell. Er lächelte. Erleichtert.
    Dann schob er den Apparat in die große Fototasche, wo auch die anderen Objektive, das Putztuch, der Pinsel, die Filter und alles Mögliche lagen, verschloss die Tasche und warf sie nicht ins Wasser, nein, er beugte sich aus dem Boot, setzte die Fototasche zärtlich auf den Spiegel auf, ließ sie los und sah leise zitternd zu, wie sie hin und her trudelnd in der Tiefe des Grünblau verschwand.
    Er ruderte zum Ufer zurück, hing das Boot an den Steg, holte sich aus dem Bootshaus sein Tonbandgerät, legte die Kopfhörer an, drückte auf Start, lauschte dem eingelegten Casals, der Bach-Partita in d-Moll, sah auf das Wasser und ließ die Bilder leben.

Das Gespräch mit dem Tanzlehrer
    Der Showmaster hatte seine Heimatstadt seit Jahren nicht mehr besucht. Weder hatte er Zeit gehabt noch Lust, sein Elternhaus gab es nicht mehr, auf das Wiedererkanntwerden auf Straßen und in Lokalen konnte er verzichten.
    Aber jetzt war er hergefahren, hatte sich hertreiben lassen von einer Bewusstseinstrübung, einer Stimmung außer Zeit und Raum, hielt den Brief in der rechten Außentasche seines Trenchcoats umklammert und hoffte, der würde plötzlich nicht mehr spürbar sein.
    Er schlenderte vom Bahnhof weg, durch die Unterführung, die es damals noch nicht gegeben hatte, und weiter die gerade Straße ins Zentrum.
    Ich habe Kreditkarte und Bares bei mir, sagte er sich, mir kann nichts passieren, nur wenn ich übernachte, werde ich mir ein paar Toilettensachen besorgen müssen, in jedem Fall eine zweite Unterhose. Seine Frau hatte ihm wohl geschrieben, warum sie ihn verlassen hatte, aber die Gründe waren nur papieren, so traditionell wie aus der Eheberatung einer besseren Illustrierten. Das waren keine Gründe, denen er sich stellen konnte, über die zu streiten war, aber, das war ihm klar, sie wollte eben nicht streiten, sie wollte nur weg von ihm.
    Es war seine dritte Frau, und er hatte an ihr alles gutmachen wollen, was er in zwei Ehen davor offenbar falsch gemacht hatte. Er war wieder gescheitert. Wohl zum letzten Mal.
    Als er zum Haus des Kunstvereins kam, fielen ihm zwei Zeilen seines Lieblingslyrikers ein:
    … ja, ich kann eine Liebste noch finden/aber bleiben wird keine bei mir
.
    Damals, als ich das zum ersten Mal gelesen habe, habe ich geglaubt, es sei ein Gedicht, sagte sich der Showmaster, heute weiß ich, es ist eine Reportage. Es gibt zwei Möglichkeiten, versuchte er zu klären, entweder ich kann mit Frauen nicht leben, oder ich habe nie gelernt, mich um
die
Frauen zu bemühen, mit denen ich leben könnte.
    Hinter dem Haus des Kunstvereins war der kleine Park, in den er als Schüler nach der Besichtigung der Ausstellungen immer gegangen war, um sich zu fragen, ob er gute oder schlechte Bilder gesehen hatte. Er hatte damals einen Test entwickelt: nahm der Park Konturen der eben gesehenen Bilder an, waren es gute, weil sie stärker waren als die Natur, jedenfalls ein paar Minuten lang.
    »Sie kennen mich wohl nicht mehr?«
    Der Showmaster hörte die Stimme eines alten Mannes, sah auf der Parkbank neben sich einen weißhaarigen, kleinen, etwa neunzig Jahre alten Mann, so der Typ eines Rittmeisters in Ruhe.
    »Sie haben eine schöne Karriere gemacht, ich habe das gerne verfolgt, aber mich kennen Sie nicht mehr.«
    »Verzeihen Sie«, sagte der Showmaster, »aber wenn Sie mir ein wenig helfen könnten …«
    »Sie haben bei mir Tanzen gelernt.«
    Natürlich, dachte

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