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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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Orchester-Bühnenprobe.
    Seine Karriere als Fotograf war allerdings unaufhaltsam. Denn dieser Apparat lieferte vollautomatisch, da konnte man machen, was man wollte, technisch hervorragende Bilder. Und da die bereits besprochenen bildnerischen Sensibilitäten noch dazukamen, entstanden Fotoserien, Vergrößerungen, Albumfüllungen von höchster Qualität. Wurde der Cellist von Kennern gefragt, mit welcher Kamera er denn diese traumhaften Bilder gemacht habe, konnte es sein, dass die nach Beantwortung einerseits sagten »Ja dann!«, andererseits aber Bewunderung erkennen ließen, vergleichbar dem Eindruck, den man bei Weinkennern macht, wenn in einer aufgelassenen Garage sechshundert Château-Weine geschlichtet sind.
    Jetzt fuhr er auch im Winter manchmal zum Badehaus und belauerte das immer dunklere, bleierne Wasser. An den Tagen, kurz vor Beginn des Frierens, zeichnete ein Entenschwarm seltsame Ornamente. Die von diesem geschwommenen Strecken blieben kreuz und quer als Linien stehen und lange sichtbar. Eine reizvolle Grafik. Der Cellist legte seinen Fotoapparat ans Auge. Er suchte das Zentrum der Komposition. Denn davon hielt er nichts, wie wild draufzudrücken, um dann mit dem Fotohändler den idealen Ausschnitt festzulegen. Nein, er fotografierte
das
Bild. Es zeigte sich ihm fast vollendet. Die dieses Bild störende Sonne war gerade weg. Nur im linken oberen Eck des Formats war ein Loch, das war durch einen leichten Schwenk nicht zu korrigieren, weil dann war es rechts unten. In der Sekunde schwamm eine Ente rechts oben ins Bild und zeichnete die fehlende Gerade.
    »Sie sind ein großer Künstler«, sagte der Apotheker zum Cellisten, nachdem ihn dessen Frau genötigt hatte, das neueste Bild ihres Mannes anzusehen.
    »Ich hoffe sehr, Sie meinen nicht nur als Fotograf«, antwortete der lächelnd mit leichtem Unterton.
    Der Cellist wurde immer kreativer. Er fotografierte bei zu schwachem Licht, er fotografierte ins Gegenlicht. Das ergab meistens interessante Bilder. Warum, wusste er nicht. Nur selten wurde aus scheinbar ganz problemlosen Aufnahmen nichts. Das konnte er sich dann überhaupt nicht erklären.
    Das Verhältnis Fotoapparat – Fotograf wurde immer belasteter. Der Fotograf wurde gereizt, wenn er das Gerät nur sah. Er fühlte sich disqualifiziert wie ein dummer Mann vor einer klugen Frau. Und er reagierte wie ein dummer Mann. Durch totale Inbesitznahme, wenn er fotografierte, durch Negation in den immer größeren Pausen. Quartalsmäßig vergewaltigte er den Apparat bis zur eigenen Erschöpfung. Aber es half nichts. Post coitum war klar, der Apparat ließ sich vom Fotografen nicht wirklich besitzen. Das alles spürte der Fotograf nur viertelbewusst. Aber er kam, nach etwa zwei Jahren, noch vor seiner Frau und der Verwandtschaft drauf, er hatte aufgehört zu fotografieren. Total. Warum? Er legte die Kamera vor sich auf die Couch und bekannte: Ich habe ein immer schlechteres Gewissen vor diesem alles könnenden Fotoapparat bekommen. Ich nütze ihn nicht. Ich hole die Nuancen aus den geheimnisvollen und unendlichen Möglichkeiten des Instrumentes nicht heraus. Ich spiele auf einem alten italienischen Cello »Hänschen klein«. Monat für Monat habe ich mir vorgenommen, das Programm Automatik zu verlassen und mit Schärfen, Filtern und Selektivmessungen zu experimentieren. Ich habe den Schritt nicht gewagt. Ich habe Angst. Ich bin ein Versager. Es muss etwas geschehen.
    Eines Tages sprach er nach einer Hauptprobe in der Theaterkantine den Theaterfotografen an. Er hätte auch den Fotohändler fragen können, der seine Bilder – häufig lobend – entwickelt hatte, jenen, dessen Rat er ja diese wunderbare Kamera verdankte. Aber vor dem schämte er sich. Er fragte also den Theaterfotografen, ob der einen seriösen Fotohändler wisse. Der unter einigen Intendanten ergraute Mensch beteuerte, es gebe keine seriösen Fotohändler, das sei so ähnlich wie bei Opernregisseuren. Er wollte aber wissen, worum es im speziellen Fall gehe. Der Cellist gestand, seinen wunderbaren, für ihn zu guten Fotoapparat loswerden und durch ein leistungsfähiges, modernes, problem- und geheimnisloses Ding ersetzen zu wollen. Der Theaterfotograf schnalzte mit der Zunge, als er den Markennamen des abzugebenden Fotoapparates hörte. Er habe auch einen. Zu Hause. Er verwende ihn nie. Für den Beruf sei er nicht schnell genug. Aber er würde ihn nie hergeben. Doch er verstehe die Situation des Cellisten, er sammle ja auch keine

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