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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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einiger Negative, um seine Auslage mit Bildern des Cellisten in Plakatgröße schmücken zu können. Beim Ausfolgen ausgearbeiteter Bilder wollte der Fotohändler auch oft wissen, wie der Meister dieses oder jenes denn gemacht habe. Der aber hatte keine Ahnung mehr. Er wusste wohl, dass er mit Infrarot oder Repro-Beleuchtung gearbeitet hatte, mit Fluoreszenz und indirektem Blitz, aber er wusste keine Details mehr. Er wusste nur, seine Fototrips waren ausgelebtes Suchtverhalten, machten ihn zum Narren einer Leidenschaft. Das sagte er aber nicht. Er sagte meist nur leise: »Gewusst wie.« Und wenn er irgendetwas in der richtigen Richtung zusammenlog, staunte der Fotohändler und gestand, noch viel lernen zu müssen.
    Im Kaffeehaus sprach ein schmieriger Zeitgenosse den Cellisten an. Er sei der zweite Vorsitzende des Fotoklubs, man plane demnächst eine Ausstellung »Der See im Laufe der Jahreszeiten«, er habe vom Fotohändler gehört, der Herr mache so sensationelle Bilder. Er sei herzlich eingeladen, sich an der Ausstellung zu beteiligen. Die Vorstellung, mit seinen Bildern zwischen Aufnahmen von Fotografen zu hängen, die höchstwahrscheinlich wussten, warum ihre Fotos so oder so geworden waren, stieß den Cellisten ab. Er torkelte zwischen Genie und Zufall. Er hatte große Bildideen. Und wenn er dann das Ergebnis sah, wusste er manchmal nicht mehr, ob es seine Idee war oder die geheimnisvolle Absprache zwischen Natur und Fotoapparat. Er schoss in den Abendhimmel über der Seebucht hinein, bildsüchtig, drückte auf den Winder, um das Verschwinden des Rot im Blau in jeder Phase festzuhalten und sah dann Tage später einen orangenen Himmel auf dem Fotopapier, eine asiatische Märchenszenerie, von allen bewundert, aber von ihm nie fotografiert, jedenfalls nicht so.
    Das konnte sein Leben nicht sein, nicht bleiben. Er war Cellist. Meister eines Klangkörpers. In der Lage, kontrolliert dessen Saiten zu streichen und Töne zu erzeugen. Bis zur Virtuosität. Das war seine überprüfbare Kunst. Er wollte sie nicht durch eine unüberprüfbare schänden. Er hatte es nicht nötig, sich von der Dämonie eines Gerätes demütigen zu lassen. Da musste eine Lösung her.
    Der Cellist fuhr in seinem Auto zum Badegrund am See. Im Kofferraum den Instrumentenkasten mit dem Cello. Auf dem Rücksitz den Fotokoffer. Er ließ den Sucher des Autoradios hin und her fahren, bis ein Klassikprogramm gefunden war. Wie zum Hohn erkannte er schon nach den ersten Tönen Jean Sibelius. Fotomusik. Zwanghaft erstanden Bilder. Sehr breite, sehr ruhige Grau-in-Grau-Panoramen. Ein Bildwerfer projizierte sie nach thematischen Einsätzen ins Hirn.
    Der Cellist drehte das Radio ab.
    Auf dem Nebensitz lag die aufgeschlagene Feuilletonseite der Tageszeitung. Deren ihm wichtigste Meldung war: Das Theaterorchester sollte in den Rang eines Symphonieorchesters erhoben werden. Dafür würden vom Kulturamt neue Planstellen bewilligt. Von jungen, ehrgeizigen Musikern und von erhöhter Konzerttätigkeit erwarte man sich eine weitere Qualitätssteigerung.
    Der Cellist fuhr zu schnell. Seine Fantasie begann auf dem Cello zu üben. Immer verrückter. Als eine Ampel auf Rot stand, besah er im Rückspiegel den Grund, sein Instrument seit einiger Zeit vernachlässigt zu haben.
    Der Cellist ruderte langsam in die Seemitte und dachte nach. Ich könnte noch einmal versuchen, den Apparat zu tauschen. Wogegen? Würde ich statt das Cello zu streichen auf dem Kamm blasen? Ich könnte den Apparat dem Fotohändler verkaufen. Der würde mich übers Ohr hauen. Der würde mir niemals das geben, was ich zu bekommen hätte. Zumal er mich als Kunden für Entwicklung verliert. Ich könnte noch einmal in die Hauptstadt – nein, diesen Laden betrete ich nie mehr. Diese Stätte meines Versagens, meiner Willenlosigkeit, meiner Nichtemanzipation. Ich könnte den Apparat dem Mann meiner Schwägerin schenken. Das ist ein netter Familienmensch, stets wohlgesonnen. Er wird bald fünfzig. Aber dann würde dieses Schwein mit meiner Kamera die herrlichsten Fotos machen, würde sich loben lassen, angeben und mit der Zeit wirklich glauben, er sei der tollste Fotograf. Nein, das alles kommt nicht in Frage.
    Die Wellen glitzerten in besonders schnellem Rhythmus. Erste Schleierwolken schoben sich vor das tiefe Blau des Himmels. Würde es am Nachmittag gewittern? Würde es heute wieder den schon so oft fotografierten doppelten Regenbogen geben? Und davor die Einschläge der Tropfen in das graubleierne

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