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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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noch an die Geschichte mit der goldenen Krawattennadel erinnern?«, fragte der Showmaster den Tanzlehrer.
    »Nein, aber erzählen Sie bitte.«
    Gegen Ende des Tanzkurses kam ein Abend, der auf den schrecklichen Namen
Krampuskränzchen
hörte. Da war allerhand vorzubereiten, zu dekorieren, wohl mehr von den Mädchen, und da gab es die Anregung des Tanzlehrers, die Schülerinnen und Schüler sollten einander Kleinigkeiten, aber wirklich nur Kleinigkeiten, schenken, mit Kärtchen und Sprüchen.
    Der Lange kaufte für seine Partnerin ein Taschenbuch mit Liebeslyrik und strich einige Zeilen an, er bekam von ihr ein modisches Feuerzeug mit einer kleinen Anzüglichkeit. Auf dem Tisch, auf dem die Geschenke deponiert waren, lag aber noch ein Geschenkpäckchen, das den Namen des Langen trug. Er öffnete das Päckchen. Das Geschenk war anonym, keine Karte lag dabei, kein Hinweis. Es war eine goldene Krawattennadel, verdächtig nach wertvoll aussehend. Der Lange war verwirrt.
    Während der Tango
Jalousie
erklang, einige tanzten, andere aßen, tranken und sich über ihre Geschenke amüsierten, suchte der Lange den Tanzlehrer.
    »Das habe ich bekommen«, sagte er und zeigte ihm die Krawattennadel.
    »Schön für dich«, sagte der.
    »Aber ich weiß nicht, von wem.«
    Der Tanzlehrer nahm die Krawattennadel in die Hand. Sein Gesicht wurde ernst.
    »Das ist echt Gold«, stellte er fest. »Das ist eigentlich schon nicht mehr erlaubt, das ist alt, sehr wertvoll, solche Geschenke habe ich gar nicht gern.«
    »Was soll ich tun?«, fragte der Lange.
    »Du könntest doch herauskriegen, von wem das ist?«, schlug der Tanzlehrer vor. »Das kann doch nicht so schwer sein.«
    »Ich habe aber keine Ahnung!«, wand sich verlegen der Lange.
    Der Tanzlehrer dachte nach. Jahrzehnte an Erfahrung, sein Wissen um die Logik von Partnerbeziehungen durchliefen sein Hirn.
    »Frag doch die …«, und er nannte den Namen der Schönheit, der Fee.
    Der Lange lief purpurrot an. Diese Vermutung war für ihn jenseits der Fassbarkeit.
    »Ich werde mich doch nicht blamieren!«
    »Ich habe es einfach nicht gewagt, die Fee zu fragen: Ist das von dir?«, sagte der Showmaster. »Wenn die mich ausgelacht hätte, ich wäre gestorben. Das ganze mühsam aufgebaute Ego wäre dahin gewesen.«
    »Ich habe oft gedacht, man hat zu wenig Zeit, sich mit den einzelnen Kindern zu befassen.« Der Tanzlehrer erinnerte sich: »Ich habe einmal einen Typ im Anfängerkurs gehabt, der war auch so verklemmt, der hat sich auch nichts zugetraut, der hat auch nicht bemerkt, was um ihn vorging. Und dann hat das schönste Mädchen aus diesem Kurs an ihren Pulsadern herumgetan, das war natürlich eine böse Geschichte, alle haben sich gefragt: warum? Die Eltern haben vermutet, wegen der schlechten Noten, die Mitschülerinnen haben behauptet, weil sie in den Literaturprofessor verliebt war. Zwei Jahre danach hat dieses Mädchen aber diesem komischen Typen gestanden: Es war seinetwegen. Ich weiß das, weil die zwei bei mir dann noch einmal einen Seniorenkurs gemacht haben.«
    »Die Geschichte hätten Sie mir damals erzählen sollen«, sagte der Showmaster.
    »Was ist aus der Krawattennadel geworden?«, fragte der Tanzlehrer.
    »Ich bin dann aufs Klo zum Spiegel, hab sie mir angesteckt und dann damit weitergetanzt. Ich habe gehofft, eine wird sagen: Na, wie gefällt sie dir?, das heißt, ich habe gehofft, die Fee wird so lange auf die Nadel starren, bis ich alles begreife. Ich habe nie gelernt, das Verhalten von Frauen zu begreifen, zu deuten, zu entschlüsseln. Wenn man sich vor dem Begreifen von Frauen fürchtet, kann man sich das ganze Lieben in die Haare schmieren.«
    Der Showmaster sah so bekümmert drein, dass der uralte, jung gebliebene Tanzlehrer an seiner Seite sich bemüßigt fühlte, den Pädagogen hervorzukehren. »Ein bisschen viel Weltschmerz für einen Mann mit dieser Karriere!«
    Zwei fünfzehnjährige Schülerinnen blieben vor der Bank und den beiden Männern stehen.
    »Kann ich ein Autogramm haben?«, fragte die eine.
    Der Showmaster lächelte sein charmantestes Lächeln.
    »Aber gerne, mein Schatz.«
    Er holte aus der linken Brusttasche des Mantels ein Foto und nahm dem Mädchen den ihm entgegengestreckten Filzstift aus der Hand.
    »Gehen Sie schon in den Tanzkurs?«, fragte er.
    »In diesem Herbst«, sagte das Mädchen.

Der Bruder des Erzählers
    Der Erzähler kam – es könnte in den Achtzigern gewesen sein – in das einzig akzeptable Hotel der Stadt, in der er
heute

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