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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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sich der Showmaster, das war unser Tanzlehrer. Der lebt noch. Wahnsinn.
    Er setzte sich an die Seite des Tanzlehrers. Lang, lang, kurz, kurz!, sah er sich im
Foxtrott
versuchen.
    Das war die Zeit, als man noch in die Tanzschule zu gehen hatte. Wo das zum Älterwerden gehörte wie der erste Schikurs. Die Frage war allenfalls, ob man – als männlicher Tanzschüler – mit siebzehn oder schon mit sechzehn Jahren den Anfängerkurs besuchte, aber
dass
man ihn besuchte, war klar. Ausnahmen gab’s natürlich, aber es gab ja auch Leute, die sich vom Religionsunterricht befreien ließen.
    Der Lange
ging schon mit sechzehn in den Tanzkurs. Er ertrotzte es zu Hause mit der Lüge, es würde mehr als die halbe Klasse schon in diesem Jahr den Tanzkurs besuchen. Die Eltern willigten daraufhin ein, sie hatten großes Interesse daran, ihren Sohn nicht von Mehrheiten fernzuhalten.
    In Wahrheit waren es aber nur vier Mann seiner Klasse, die es nicht mehr erwarten konnten. Der Lange wusste nicht genau, welche Motive die anderen hatten, seines war klar: Er wollte Mädchen nahe sein, ohne es begründen zu müssen.
    Es gab drei Tanzschulen in der Stadt, aber für die Schüler der Schule des Langen kam nur eine in Frage, es wäre gänzlich abwegig gewesen, den Besuch einer anderen Tanzschule auch nur in Erwägung zu ziehen, man war Schüler der besten Schule und hatte daher auch Tanzschüler der besten Tanzschule zu sein.
    »Wie viele Tanzschulen gibt es heute?«, fragte der Showmaster.
    »Vielleicht fünf«, antwortete der Tanzlehrer. »Das hat sich alles verändert, aber verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin keiner, der einer Zeit nachtrauert. Wenn ich’s mir genau überlege, finde ich Tanzen unwichtig.«
    »Für uns war’s eine aufregende Zeit, glauben Sie mir«, sagte der Showmaster.
    Kurz vor der ersten Stunde verließ den Langen der Mut. Er stand zu Hause vor dem Spiegel, fand die Ärmel seines Anzugjacketts zu kurz oder die Arme zu lang, fand, dass die Krawatte in der Nähe des Knotens schon allzu sehr glänzte, fand, dass sein Kopf auf diesem langen Körper zu klein war, entschieden zu klein, blamabel klein.
    Der Lange begann sich vor der Tanzschule zu fürchten.
    Er sah in den Spiegel und dachte: Das wird mein Ende.
    In der Garderobe der Tanzschule fühlte er sich wie mit vierzig Grad Fieber. Die Atmosphäre des Umkleidens war ihm vertraut, aber es waren Sportschuhe, die ihm als Objekte des Schuhwechsels vertraut waren, nicht leichte, flache schwarze Halbschuhe. Auch die vielen hellen Blusen und hohen Mädchenstimmen gehörten nicht hierher. Hinter der hohen weißen Doppeltür war auch keine Basketballhalle zu erwarten, sondern ein viel glatteres Parkett. Der Lange ließ seine Blicke kreisen, sah jede Menge zu kleiner und zu großer Köpfe, jede Menge zu langer und zu kurzer Arme und dachte sich: Aber so klein wie mein Kopf ist keiner, und so lang wie meine Arme sind keine.
    »Wissen Sie eigentlich noch, dass es in unserer ersten Stunde einen richtigen Skandal gab?«, fragte der Showmaster. »Nein, das können Sie nicht mehr wissen, aber für mich war das sehr komisch, besser gesagt: sehr wichtig, denn es hat mich damals so von den eigenen Problemen abgelenkt.«
    »Erzählen Sie doch«, bat der Tanzlehrer.
    Da war ein blendend aussehender, blond gelockter junger Mann in einem besonders schönen Anzug. Der cremte sich in der Garderobe seine Hände, zog weiße Seidenhandschuhe an und tupfte sich mit einem Stecktuch den Schweiß von der Stirn.
    »Ist dir nicht gut?«, fragte der Lange und erhielt als Antwort nur einen verächtlichen Blick.
    Die Tragödie dieses schönen Tanzschülers überschattete alles, was sich in der ersten Tanzstunde abspielte. Der schöne Tanzschüler, den man offensichtlich gezwungen hatte, sich für den Tanzkurs anzumelden, weigerte sich schon beim Einnehmen der Grundhaltung mitzumachen.
    Das interessierte den Langen, denn jetzt war der Tanzlehrer, die Autorität, gefordert. Jetzt hatte der Tanzlehrer die Chance, zu zeigen, ob ein Tanzlehrer mit einer Situation der Verweigerung eleganter fertig werden könne als ein Lateinlehrer.
    Der Tanzlehrer ging zum schönen Tanzschüler, dem eine ratlose Dame gegenüberstand, und sagte höflich, aber bestimmt: »Darf ich Sie bitten mitzumachen?«
    Der schöne Tanzschüler blieb reglos und schwitzte. »Ich frage Sie zum letzten Mal«, sagte der Tanzlehrer. Der schöne Tanzschüler rührte sich nicht.
    »Dann handelt es sich wohl um einen Irrtum«, sagte der

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