Die Socken des Kritikers
Rache zumute. Nach einer kleinen Rache, aber nach einer Rache. Nach einer Rache an seinem Vater, auch im Namen des Bruders. Er beschloss, für seinen kommenden Erzählband eine Geschichte zu schreiben, eine Schlüsselgeschichte, wohl listig verfremdet, aber für seinen Bruder deutbar.
Es könnte die Geschichte eines Arztsohnes sein, dachte der Erzähler, eines Arztsohnes, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geboren, der an seinem Übervater, einem bedeutenden Mediziner, zunächst zerbricht, sein Medizinstudium wegen Erfolglosigkeit abbricht, sich in den Wissenschaftsjournalismus rettet, dort endlich Erfolg hat, Fuß fasst und eines Tages, bei Durchsicht alter Archive, in schlimmstem Zusammenhang auf den Namen des Vaters stößt.
Der Konflikt des Sohnes, den Vater hochgehen zu lassen und ihn so zu besiegen oder ihn durch einen bewussten Gnadenakt zu demütigen, wäre der Plot der Geschichte.
Der Erzähler nahm den imaginären Dialog mit seinem Vater noch einmal kurz auf. »Dass du dich in Lebensgewohnheiten oder Redensarten dieses Arztes nicht wiedererkennst, das kann ich dir nicht versprechen«, sagte er zu ihm. »Tu, was du nicht lassen kannst«, antwortete – außerhalb jeder Logik – der Vater.
Der Erzähler sagte am nächsten Vormittag, nachdem er die kurze Ansprache des Kulturstadtrates von der vorabendlichen Einladung heruntergeduscht hatte, dem Bruder das Kommen zur Ehrenbürgerernennung des Vaters zu. Die Brüder vereinbarten zudem, der Erzähler würde zwei Tage davor in die Heimatstadt kommen, um – mindestens noch einen Tag bei den Eltern unangemeldet – mit dem Bruder eine ausgiebige Sauf- und Quatschtour machen zu können.
Der Bruder holte den Erzähler vom Bahnhof ab. Die beiden fielen einander in die Arme und spielten ihre Art von Zärtlichkeit durch.
»Du hast ja überhaupt keine Haare mehr«, sagte der Erzähler.
»An deinen sieht man, wie sehr Alkohol konserviert«, antwortete sein Bruder.
Dann fuhren sie in das Kaffeehaus des Bruders, um dessen Frau zu begrüßen, die gerade wenig Zeit hatte, da im Extrazimmer ein Sektfrühstück für eine geschlossene Gesellschaft zu arrangieren war. Der Bruder zeigte dem Erzähler den Umbau des Atriums. Schon wollte der anmerken, vorher wäre alles viel schöner gewesen, da nahm er den Stolz seines Bruders auf das neue Gesicht des Kaffeehauses wahr und schwieg.
Der Bruder wollte den Erzähler überreden, doch bei ihm, im Gästebett, zu wohnen, der aber bestand auf dem Hotel schräg gegenüber, er wolle der Frau des Hauses nicht zur Last fallen, sagte er.
Sie stellten den Reisesack des Erzählers im Hotel ab und begannen sofort zu bummeln.
Es war Sommer.
Zwei Männer, Mitte und Ende fünfzig, als Künstler oder Bürger für neutrale Beobachter nicht auseinanderzuhalten, strolchten in Polohemden, die leichten Jacketts über eine Schulter geworfen, jeweils einen Zeigefinger durch die Kragenschlaufe gesteckt, durch die Innenstadt. Sie gratulierten sich zu ihrer Existenz als Söhne eines Ehrenbürgers und begannen, es komisch zu finden. Sie erzählten sich bittere Episoden ihrer Kindheit und wunderten sich, dass jeweils der Bruder die eine oder andere Geschichte vergessen oder nie gewusst hatte. Sie zeigten einander die Lokale und die Parks, in denen sie gesessen waren, als sie sich wegen der katastrophalen Schulnoten nicht nach Hause trauten.
Und sie lachten.
Beim Stadttheater gingen sie vorbei, erinnerten sich an Sänger und Sängerinnen, die sie in den vom Vater verordneten, ihnen besonders verhassten Wagneropern besonders komisch gefunden hatten.
Und sie lachten.
Nach der fünften Rast in Gasthäusern, Bistros oder Espressos hatten sie schon einen schönen Rausch. Der Bruder des Erzählers sagte: »Der Ehrenbürger kann stolz auf uns sein.«
Daraufhin bekamen die beiden einen derartigen Lachkrampf, dass Passanten kurz irritiert stehen blieben, bevor sie einen größeren Bogen um sie machten. »Komm, wir fahren in das Park-Bad«, sagte der Erzähler.
Das Park-Bad war beider Paradies in den Zeiten der erwachenden Sexualität gewesen. Da gab es kaum einen Kabinengang, zu dem sie nicht noch eine kleine Geschichte wussten.
Die Brüder liehen sich zwei Badehosen aus, kleideten sich um und amüsierten sich wie die Blöden über ihre nicht mehr sehr straffen Figuren in den auch nicht besonders vorteilhaften Leihbadehosen.
Sie gingen an den Rand des größten Pools, und der Bruder erzählte, wie er damals, als
Kleiner Bruder
, dem großen
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