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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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das ist eben Kunst, das verstehen wir nicht.«
    Der Bruder baute sich ganz nah vor dem Erzähler auf, so dass der unwillkürlich zurückwich.
    »Ich habe dir in dein Zeug nie reingeredet, es hat mich nie sonderlich interessiert, ich habe es auch nie so gut oder bedeutend gefunden wie du, aber diesmal sage ich dir – und nimm das bitte ernst: Wenn diese Geschichte erscheint, erschlage ich dich.«
    Schade, dachte der Erzähler, schade um die Arbeit, schade um die Geschichte, aber die Sache hat ihr Gutes, ich kann mich einmal in meinem Leben bei meinem Bruder revanchieren.
    »Kannst du dich erinnern, an diese Stelle im I. Akt der
Bohème
, wo der Dichter singt: ›Den Schaden trägt das Jahrhundert‹?«
    Der Bruder nickte und sang sie quäkend.
    Und dann begannen die beiden so brüllend Oper zu singen, dass die Frau des Bruders im Schlafanzug auftauchte und fragte, ob denn nicht doch ein Kaffee sinnvoller wäre als der Kognak.

Das Selbstmordmotiv
    Der Talentierte traf den Mentor zum Mittagessen im Restaurant des ersten Hotels der Industriestadt, in der der Talentierte zur Zeit sein Geld verdiente. Er konnte beim Gang zum Hotel vor Aufregung keinen klaren Gedanken fassen:
Seinetwegen
wartete der Mentor schon im Restaurant,
seinetwegen
war er in diese Stadt gekommen, ihm, dem Talentierten, geradezu nachgereist.
    Der Mentor, der es zu diesem Zeitpunkt genau besehen noch nicht war, dem wir aber, den Gang der Dinge kennend, die Bezeichnung schon zuschreiben, war ein bleicher, nervöser Mensch, der, in seiner Art zu sprechen, sich und sein Leben überholen zu wollen schien. In seinem
Scheißjob
hätte er nicht häufig Gelegenheit zu angenehmen Begegnungen mit jungen Menschen, meist wäre er dazu verurteilt, sich mit dem Apparat, der Administration und der Programmdirektion, herumzuquälen, ein Kennenlernen eines talentierten Menschen, ein kreatives Gespräch, das, worauf er, der doch von der Kunst, der Theaterpraxis käme, so großen Wert legte, das gäbe es wohl allzu selten, aber – erfreulicherweise – eben heute, hier und jetzt.
    Er sei seinem Freund, dem großen Satiriker, für den Hinweis, den Tipp, die Empfehlung sehr dankbar, er nehme Empfehlungen und Ratschläge seines Freundes, des großen Satirikers, sehr ernst, wie die Verabredung, die Anreise, die Anwesenheit doch irgendwie bewiesen.
    Der Mentor war Leiter der Abteilung Fernsehspiel des größten nationalen Fernsehsenders und hatte für bereits bestehende Projekte Drehbuchaufträge zu vergeben. Er beteuerte, darüber hinaus, in der Folge, für jede neue, originale Idee offen zu sein, nur die bis dato misslungene Autorensuche für die bestehenden Projekte zwinge zur Konzentration. Für den einen Stoff gäbe es schon ein ausbezahltes Drehbuch, aber mit dem wolle er den Talentierten gar nicht behelligen, das würde ihn nur auf eine falsche Fährte locken oder ihm den grandiosen Stoff eher verdächtig machen. Er könne sich absolut vorstellen, dass der Talentierte einen ganz persönlichen Zugang zu diesem Stoff fände.
    Der Mentor bestellte Rehrücken und bat um die Erlaubnis, weißen Wein dazu trinken zu dürfen, weil er nach einem kräftigen Roten, und nur der wäre zum Wild sinnvoll, für gewöhnlich Migräneanfälle bekäme.
    Der Talentierte hatte noch nicht viel gesagt, hatte durch kleine Einwürfe höchste Aufmerksamkeit simuliert, sich aber nur immer gefragt, ob sein Schweigen auf Dauer das Vertrauen des Mentors fördern oder verringern würde. Erwartete der Mentor den Redefluss unterbrechende, ausführliche Gegenfragen, oder würde er die als Eingeständnis von Unsicherheit empfinden?
    Der Talentierte schloss sich der Bestellung des Mentors an und wehrte dessen »Aber wegen mir müssen Sie doch keinen Weißwein trinken!« mit der Unwahrheit ab, er hätte ihn viel lieber.
    »Ja«, wiederholte der Mentor, die Orangenscheibe angeekelt vom Fleisch schiebend, »was ich jetzt in erster Linie benötige, schließlich sind schon Verträge unterzeichnet, ist die filmische Aufbereitung eines im Milieu des Provinztheaters angesiedelten Gesellschaftsromans aus dem 19. Jahrhundert. Dieser Roman weist derart stupende Parallelen zur Gegenwart auf, vor allem in der Gegenüberstellung der sogenannten Gesellschaft und des Theatervolkes, dass die Übertragung in die Gegenwart geradezu zwingend ist, so reizvoll wie schwierig.«
    Denn, und jetzt schien der Mentor bei seinem eigentlichen Anliegen anzukommen, der Stoff hätte, wie der Talentierte schon bei der ersten Lektüre

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