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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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internationalen Renommees nicht verweigern wollen, Ihnen über meinen Vater die Wahrheit zu sagen. Ich beschränke mich in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit auf die Information, dass einige der von meinem Vater geschaffenen Bauwerke Ihrer geschätzten Stadt auf Plänen beruhen, die er zu Ehren seines
Großdeutschen Reiches
entworfen hatte und deren Ausführung im Rahmen des von meinem Vater angestrebten
deutschen Weltreiches
nur durch einen unglückseligen Kriegsverlauf, genau besehen, durch
Verrat in den eigenen Reihen
, verhindert wurde. Wenn mein Vater heute für eine
Humane Technik
Geld stiftet, dann meint er, man solle Techniker seines Typus human behandeln und ihnen Lebenslügen jeder Art gestatten, bestätigen und honorieren. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
    Viele unsinnige Reden hielt der Erzähler, bis sich die Figur seines Vaters vor ihm aufbaute.
    »Warum willst du dich an mir rächen?«, fragte der Vater. »Ich bin gestraft genug. Ich wohne im vierten Stock, ohne Lift, meine Beine tragen mich nicht mehr, jeden Tag werde ich daran erinnert, dass ich ein alter Mann bin, der sich nicht mehr richtig helfen kann, warum missgönnst du mir diese Ehrung, die einzige Freude, die ich noch haben kann?«
    Ich gebe ihm gar keine Antwort, dachte der Erzähler, es käme nur zum Streit.
    Ich kenne diese Treppe gut, dachte er sich. Ich bin sie als Kind rauf und runter getollt. Und als die Schultasche schwer wurde und ich überhaupt wenig Grund sah, die Treppen nach Hause im Eiltempo zu nehmen, konnte es sein, dass der Vater in der offenen Tür stand und sagte: »Du gehst wie ein alter Mann.«
    Heute geht mein Vater wie ein alter Mann, aber
dass
er gehen muss, ist selbstverschuldet. Wie oft haben mein Bruder und ich gesagt, so schön diese Wohnung auch ist, für alte Leute wird sie mühsam werden; wie oft hat mir mein Bruder erzählt, er hätte für die Alten eine schöne Wohnung gefunden, auch zentral, aber eben mit Lift. Zähe hat sich der Vater jedem Wohnungswechsel widersetzt. Er sei ein
Mann
, und ein Mann könne seine Füße gebrauchen, solange er lebt. Wie oft hat mir mein Bruder berichtet, er hätte sich Pläne beschafft von neuen, im Bau befindlichen Wohnungen, hätte dem Vater gesagt, da könne man noch auf den Grundriss Einfluss nehmen, aber dem großen
Baumeister
pflegte es vor den
Hervorbringungen
der neuen
Kollegen
zu schaudern. Wohnungen, die stilistisch zumutbar gewesen wären, lehnte er mit der Behauptung ab, seine wertvollen Möbel seien dort nicht oder nicht richtig unterzubringen, und den Verlust, das Weggeben auch nur eines Möbelstückes, könne er der Mutter nicht zumuten.
    Auch das Argument, die Wohnung würde für zwei alte Leute viel zu groß, daher vom Reinigen her nicht mehr zu bewältigen sein, hat nicht gezogen. Man könne sich ja dienstbare Geister leisten, hat der Vater erklärt, und später, hat mir mein Bruder erzählt, und später, als es so weit war, dass sie dienstbare Geister gebraucht hätten, hat er gesagt, der Vorstand einer so großen Familie hätte es nicht nötig,
fremde Leute
, womöglich
Ausländer
, in seiner Wohnung zu dulden, eine Familie wie er, der Vater, sie gegründet hat, eine Familie dieser Art hilft sich selbst.
    Der Erzähler beschimpfte wieder seinen Bruder. Du hast dich in die Knie zwingen lassen, du Hosenscheißer, du hast dich abgefunden, du hast deinen Kindern nie die Wahrheit über ihren Großvater gesagt, du hast ihnen nie verraten, wie du zu ihm stehst, du hast dir seelenruhig angehört, wie der Alte gewürdigt hat, es sei lieb von den Kleinen, sich um ihre alten armen Großeltern zu bemühen. Bruder, ich könnte dich verprügeln! Ich hab dich angefleht, nimm dir doch ein Beispiel an deiner Frau, die lässt sich von den Alten nicht auf den Kopf machen. Was hast du mir geantwortet? Du müsstest dir deshalb das Gejammer der Alten anhören: Was hat sie denn gegen uns? Was haben wir ihr denn getan?
    Du hast alle meine Versuche, dich ein wenig aufzuhetzen, dich zu ermutigen, die Alten zur Wahrnehmung ihrer eigenen Lebensmöglichkeiten zu zwingen, abgeblockt. Du hast resigniert. Du hast nur gesagt: Du hast leicht reden! Du bist irgendwo! Ich hab sie jeden Tag.
    Bruder, solche Sachen hast du mir gesagt, du bist ein Idiot, aber ein lieber Bruder.
    Jetzt gelang es dem Erzähler endlich einzuschlafen. Eine halbe Stunde später erwachte er, gestört vom Knistern eines Papiers. Es war das Fax, das er in der Hand hin und her knüllte.
    Es war ihm nach

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