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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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in der Familie blieb die Ansicht des Vaters, wie junge Männer zu erziehen, wie die Prinzipien seiner Lebensführung durchzusetzen seien. Die Begriffe
Zucht, Ordnung
und
Männlichkeit
hatten sich für den Vater nicht geändert. Er hatte zwei Söhne gezeugt und auserkoren, als Ingenieure und Erfinder das
Lebenswerk
des Vaters fortzusetzen. Hatten die Brüder als Kinder Prügel bezogen, wenn sie ein Element des
Technischen Baukastens
verloren hatten, bekamen sie die letzten Schläge, als sie dem Vater immer deutlicher machten, sie gingen – trotz seiner perfekten Erziehung – einen anderen Weg. Immer wieder mussten sie sich das Gejammer von einer
verlorenen Jugend
, einer
fehlgeleiteten Generation
anhören, das nur schwach verdeckte Bekenntnis zur Naziideologie und die suggestive Aufforderung des Vaters, diese seine Ansichten nur ja nicht in der Schule zu diskutieren, da es heutzutage zu niederträchtigen Fehlinterpretationen kommen könnte. »Womöglich würde noch einer sagen, ich sei ein Nazi«, hatte der Vater des Öfteren befürchtet.
    Wir sind durch die Hölle gegangen, Bruder, sagte stumm der Erzähler, wenn wir einander nicht gehabt hätten, wenn wir nur einer gewesen wären, vielleicht hätten wir uns umgebracht, ich war nah dran so mit siebzehn, aber du warst ja drei Jahre jünger, warst noch blöd, hast mich nicht ernst genommen, meine wunderbaren lyrischen Gedichte hast du für Schwachsinn gehalten, was sie ja waren, aber du hattest nicht das Recht, sie schwachsinnig zu finden, du warst doch ein kleines Arschloch, frühreif, das gebe ich zu, aber doch nur ein kleines, rotzfreches Arschloch. Aber es war wichtig für mich, dass wir in einem Zimmer geschlafen haben, Bruder, ich konnte immer mit dir reden, ich weiß nicht, ob du immer zugehört hast, aber ich konnte es mir einbilden.
    Wenn du einmal geweint hast, hast du mir nie gesagt, warum, du hast dich nicht ausdrücken können oder wollen, das weiß ich heute nicht mehr, aber ich habe gespürt, wie glücklich du warst, mich zu haben. Wie haben wir den Alten überwunden, Bruder? Überstanden? Das war die neue Zeit, das war die Demokratie. Wir hatten immer mehr Möglichkeiten zur Flucht, immer mehr Mut zum Widerstand, der Vater hatte immer weniger Möglichkeiten des Zugriffes. Du wurdest immer frecher, der Alte immer ohnmächtiger.
    Weißt du noch, wie er zum ersten Mal meinen Namen unter einem Artikel in diesem Jugendmagazin gelesen hat? Das ist ein
Drecksblatt
, hat er gebrüllt, ein Drecksblatt, da schreiben nur
Schmierfinken
, mein Sohn wird doch nicht einer dieser Schmierfinken sein wollen! – Da hast du einen Lachkrampf bekommen, du hast derartig gelacht, einfach nicht mehr aufgehört, so wie die Marie in
Was ihr wollt
– du kannst dich sicher erinnern, wir sind ja gerne ins Theater gegangen –, du hast einfach nicht mehr aufgehört zu lachen, und dann habe ich begonnen mitzulachen, wir haben so lachen müssen, dass der Alte zur Säule erstarrte. Wenn ich mir heute sein Gesicht in Erinnerung rufe, das er damals gemacht hat, müsste ich fast Mitleid haben. Aber ich habe es nicht, Bruder, keine Angst.
    Der Erzähler beendete die Ansprache an den Bruder und versuchte ein wenig zu schlafen. Er konnte es nicht. Er holte seinen Taschenkalender aus dem Jackett, um nachzusehen, ob er zum Termin der Ehrung seines Vaters überhaupt Zeit haben würde. Er fand keinerlei Eintragung.
    Ich werde hinfahren, beschloss er, ich kann meinen Bruder nicht im Stich lassen.
    Ich habe ihn viel zu oft im Stich gelassen. Eigentlich immer. Ich bin nach der Schule abgehauen, weg. Was ich gemacht habe, wie ich gelebt habe, steht – mehr oder weniger ehrlich – in meinen Büchern. Über meinen Bruder aber habe ich nie geschrieben, obwohl das ja nicht unkomisch gewesen sein müsste, als er – ohne die Schule abgeschlossen zu haben – mit einer um einige Jahre älteren Ausländerin eine Speiseeisfabrikation begann.
    Für den Vater muss das das Ende aller Illusionen bedeutet haben. Aber der Bruder, dieses Miststück, hat Gewinne gemacht. Eines Tages gab es diese ältere Frau nicht mehr, aber dafür einen richtigen Eissalon. Ich habe ja lange nichts Genaues gewusst, erst als ich zu den wichtigsten Familienfesten wieder nach Hause gekommen bin, habe ich erfahren, was so läuft.
    Der Vater ist rasch alt geworden, unheimlich wehleidig. Immer wieder hat er zu erklären versucht, er hätte
alles nur gut gemeint
. Es gelang ihm, immer hilfloser zu wirken. Und die Mutter hat es ihm,

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