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Die Socken des Kritikers

Die Socken des Kritikers

Titel: Die Socken des Kritikers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Werner Schneyder
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wie alles, nachgemacht.
    Warum bin ich dennoch immer wieder hingefahren? Ganz einfach, weil es meine Eltern waren. Den letzten Schritt hätte ich nie gewagt, schon gar nicht wegen meines Bruders.
    Denn der ist zum Opfer geworden. Den haben sie fertiggemacht. Langsam, methodisch. Ich hab’s rausgehört aus den Telefongesprächen, aus den Briefen. Der Vater, der es nicht geschafft hat, ihn zu seinem Sohn zu machen, hat es geschafft, ihn zum Anhörer zu machen, zum Diskutierer angeblicher Reue, die ja doch nichts anderes war als verschleierte Rechtfertigung.
    Mein Bruder ist zum Pfleger meiner Eltern geworden, Animateur, Maître de plaisir. Er ist geduldig geworden, versöhnlich, er hat alles Rebellische verloren, er ist verblödet, bei aller Liebe, ich muss es so klar sagen, er ist verblödet, er hat eine schauerliche Frau geheiratet, hübsch, aber schauerlich, dass sie Tochter einer Konditorei ist, kann doch nicht der Grund gewesen sein, er muss sie geliebt haben, sie haben die zwei obligaten Kinder gemacht, eine Musterfamilie gegründet und die Eltern, also meinen Vater, unseren Vater, diesen Vater, in deren Mitte gerückt, er ist auf das Altwerden des Vaters reingefallen, er hat wohl nicht verziehen, aber er hat sich abgefunden.
    Der Erzähler begann sich im Halbschlaf wieder an seinen Bruder zu wenden.
    Du hast mir damit ein schlechtes Gewissen gemacht, das ist dir wohl klar, du Sauhund, du bist ein guter Sohn geworden, damit bin ich ein schlechter Sohn, aber ich bin es gerne, aus Überzeugung, glaube mir das.
    Ich habe dich verachtet, damals als ich bei euch war und der Alte angerufen und dich gefragt hat, ob die neuen internationalen Entwicklungen die Geldabwertung und so den Verlust seiner gesamten Ersparnisse zur Folge haben würden. Ich hab dir zugeflüstert: Sag ja! Sag ihm, das ganze Geld würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Bach runtergehen. Du hast ihm eingeredet, es könne nichts passieren, mit Engelsgeduld erklärt, warum nichts passieren könne, und danach hast du mich angeschnauzt, was ich mir denn einbildete, wenn du ihm sagtest, das Geld verlöre den Wert, bekäme er einen Herzanfall, und du hättest wieder die Scherereien.
    Du hast mir oft zu verstehen gegeben, Bruder, dass ich dich allein lasse. Aber was heißt denn allein? Wozu hast du denn eine Bilderbuchfamilie? Ich habe keine, ich hätte nie eine haben können, bei meiner ewigen Herumreiserei, denn – weißt du – wenn man schon ein Leben lang die gleichen Geschichten erzählt, dann muss man wenigstens immer neue Hintergründe recherchieren, damit es keiner merkt.
    Ich bin mir jetzt nicht sicher, geliebter Bruderdepp, ob du das begriffen hast.
    Mensch, bist du mir auf die Nerven gegangen, damals, als ich in Texas meine Gastvorträge an der Uni gehalten habe. Die Mutter ist mit ihrem Kreislauf am Ende, hast du mir erzählt, weil ich Idiot dich leichtfertigerweise angerufen habe, sie ist im Haushalt kaum mehr einsatzfähig, was unseren Vater veranlasst hat, dich um alle Dienstleistungen zu bitten, um Besorgungen jeder Art. Du hast mir ausführlich erzählt, wie er den Hilflosen spielt, der die vier Treppen nicht mehr schafft, du hast mir erzählt, wie er zufrieden gegrinst hat, wenn er dir gesagt hat, es sei doch ein Trost, im Alter einen gutverdienenden, selbständigen Sohn zu haben, der ein bisschen Zeit oder wenigstens Personal für seine alten Eltern erübrigen kann. Du hast seinen Tonfall am Telefon imitiert, und ich habe geglaubt, ich werde tobsüchtig, in Texas.
    Natürlich meintest du, ich hätte die Eltern selbst auch öfter mal anrufen oder besuchen können, dich vielleicht dadurch entlasten, aber ich hatte immer Angst, das Lügengequatsche könnte mich zu Fehlreaktionen veranlassen, die dann eine Stimmung erzeugen, die nur dir wieder auf den Kopf fällt.
    Ja glaubst du, ich
kann
mir ruhig anhören, ich triebe mich in der Welt herum und hätte offenbar keine allzu große Angst, meine Eltern nicht lebend wiederzusehen? Ich kann mir das nicht ruhig anhören!
    Dem Erzähler wurde schlecht.
    Er öffnete die Minibar und schluckte die zwei vorhandenen Magenbitter hintereinander.
    Er stellte den Fernsehapparat an und gleich darauf wieder ab, weil er das Bild nicht wahrnahm.
    Er begann revolutionäre Szenen zu entwerfen, große Posen der Sabotage wie einst in den Jahren der Pubertät.
    Er sah sich die Ehrenfeier unterbrechen, das Podium betreten und hörte sich reden:
    Verehrte Festgemeinde! Sie werden einem Mann meines

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