Die Söhne der Insel: Roman (German Edition)
Morganen zu finden vermochte. Diese Leute hatten sich von derselben irrationalen Furcht leiten lassen, die auch ihn und seine Brüder von den Corvis-Ländereien nach Nightfall ins Exil getrieben hatte. Nur dass Magie – wenn er sie richtig verstanden hatte – in ihrer Welt ausschließlich in Geschichten, Legenden und abergläubischen Ansichten existierte. Die Angst ihrer Nachbarn beruhte nicht auf konkreten Fakten, wohingegen seine Familie von einem gezielt gegen sie gerichteten Fluch bedroht wurde. Dadurch erschien ihm das Schicksal dieser Frau noch tragischer.
Während sie ihm schilderte, was ihr in der letzten Zeit alles widerfahren war, keimte in ihm ein stetig wachsendes Unbehagen. Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar und überlegte, wie er unauffällig das Thema wechseln konnte. Dabei betrachtete er ihr Profil. Er sah ihr an, dass sie all ihre Willenskraft aufbot, um nicht in Tränen auszubrechen. Ihre Augen waren verräterisch gerötet und schimmerten feucht. Als sich ihre Kiefernmuskeln etwas entspannten, richtete er eine unverfängliche Frage an sie.
»Wie ist dein Name?«
»Kelly. Kelly Doyle.« Sie unterdrückte ein Schluchzen, indem sie die Nase hochzog, was ihr nicht ganz gelang. Eine Doyle weinte nicht, jedenfalls nicht wegen solcher Belanglosigkeiten wie Vorurteilen, versuchtem Mord und rabiaten Grobianen aus anderen Welten. In anderen Welten. So gefasst, wie es ihr angesichts dieser bizarren Situation möglich war, sah sie ihn schließlich an und fragte mit erzwungener Höflichkeit: »Und deiner?«
»Saber. Von Nightfall.« Er wartete auf ein Anzeichen dafür, dass ihr sein Name etwas sagte, was natürlich nicht der Fall war. »Meine Brüder und ich wurden auf diese Insel verbannt«, erklärte er. »Unsere Nachbarn hatten auch Angst vor uns.«
Ihre Augen verengten sich argwöhnisch. »Warum?«
»Weil der Fluch der Acht Prophezeiungen über uns liegt, darum. Wir sind acht Brüder, als vier Zwillingspaare geboren, und zwar alle am selben Tag im Abstand von jeweils zwei Jahren. Jeder von uns hat eine Besonderheit oder eine Gabe, die einer Strophe des sogenannten ›Liedes der Söhne des Schicksals‹ entspricht.«
Sie zog die Decke etwas höher, obwohl sie ihr kaum Schutz bieten würde, falls er doch noch beabsichtigte, ihr etwas anzutun. »Was heißt das – Fluch? Verwandelt ihr euch bei Vollmond in Werwölfe oder trinkt Blut oder speit Miniaturdämonen aus, wenn euch jemand mit Wasser besprengt?«
Er runzelte die Stirn, öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder und schüttelte den Kopf. Sie hatte eigenartige Vorstellungen vom Wesen eines Fluchs. »Nein. Um so eine Art Fluch handelt es sich nicht. Die mich betreffende Strophe in dem Lied besagt klar und deutlich, dass ein Unheil über ganz Katan hereinbrechen wird, falls ich mich je verliebe … und Katan ist ein großes Land, die Heimat von mehr als einer Million Menschen.«
Jetzt war es an ihr, die Stirn zu runzeln. »Das ist alles? Einzelheiten werden nicht genannt? Nur dass es ein nicht näher beschriebenes Unheil nach sich zieht, wenn du dich verliebst?«
Saber funkelte sie finster an. »Das Ganze ist wesentlich komplizierter.«
»So? Das musst du mir schon genauer erklären. Heißt es zum Beispiel: ›Wenn Saber von Nightfall sich in eine Blondine verliebt, wird von Frühling bis Herbst eine Heuschreckenplage
die Felder befallen und eine Hungersnot ausbrechen?«, forderte Kelly ihn heraus. »Oder heißt es: ›Wenn Saber von Nightfall sich in eine Brünette verliebt, werden die Meere die Erde überfluten, und jede Quelle wird einen Monat lang rot von Blut sein?‹ Sind das in etwa die Komplikationen, von denen du sprichst?«
»In dieser Welt sind Flüche und Prophezeiungen keine Hirngespinste, sondern Realität. Das Lied, das ich meine, wurde vor über tausend Jahren von der Seherin Draganna geschrieben, und ihre Vorhersagen sind bislang immer eingetroffen.«
»Was genau steht denn in diesem Lied?«, hakte Kelly nach. »Weißt du, dort, wo ich herkomme, haben die Menschen vor dreihundert Jahren andere Menschen häufig der Hexerei bezichtigt. Sie haben behauptet, diese Leute hätten ihre Kühe verflucht, sodass sie keine Milch mehr gaben, oder ihre Ernte durch eine Dürre oder sintflutartige Regenfälle vernichtet, und wegen solcher Beschuldigungen landeten die angeblichen Hexen am Galgen.
Aber weißt du was? Die Milch der verdammten Kühe versiegte, weil sie vom Bullen gedeckt werden mussten, um zu kalben, was den Milchfluss
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