Die Söhne der Wölfin
ausgerechnet mich nach unserer Reise fragst. Ulsna ist ein viel besserer Geschichtenerzähler als ich, und meine Mutter auch. Nicht, daß ich dich nicht gerne besuche«, setzte er hastig hinzu.
»Deine Mutter hat schon zuviel gesehen, um noch Einzelheiten wahrzunehmen«, entgegnete Prokne lächelnd. »Sie vergißt, daß für uns arme festverwurzelte Wesen jede Kleinigkeit neu sein kann. Du hingegen siehst mit dem reinen, unbefangenen Auge der Jugend. Was Ulsna betrifft«, sie machte eine abschätzige Handbewegung, »so wissen wir ja alle, daß Barden nur sagen, was ihr Publikum hören will.« Sie musterte ihn unter halbgeschlossenen Lidern. »Doch ich glaube nicht, daß du mich je anlügen würdest, Remus.«
»Natürlich nicht. Das wäre unehrenhaft«, erwiderte Remus, und stellte fest, daß ihm heiß wurde. Er war kein Kind mehr. Er hatte seinen Stimmbruch hinter sich, und es tauchten Barthaare auf, die abgeschabt werden wollten. Wovon die Herrin Prokne sich ernährte, wußte er inzwischen gut genug, auch weil ihn seine Freunde glühend darum beneideten, daß er die berühmteste Hetäre von Korinth kannte. Doch bisher hatte sie ihn kaum wahrgenommen, und wenn, dann wie ein Kind behandelt. Heute besuchte er sie zum ersten Mal ohne seine Mutter. Und sie hatte ihn eingeladen.
Er mußte zugeben, daß er ganz zu Anfang seines Aufenthalts in Korinth etwas eifersüchtig auf die Zeit gewesen war, die seine Mutter hier verbrachte; später hatte er sich gefragt, woher die Mutter und Prokne sich eigentlich kannten. Aber er war immer bereit, einzugestehen, daß Prokne die schönste Frau war, die er kannte. Nicht, daß er viele Frauen kannte. Eigentlich kannte er überhaupt keine, zumindest nicht hier. Auch nach Jahren, in denen er in den Haushalten von Theophrastes und Arion ein- und ausgegangen war, hatte man ihm nie die Schwestern seiner Spielgefährten vorstellt. Es war eigenartig gewesen, in Ägypten auf einmal wieder Frauen und Mädchen auf den Straßen laufen zu sehen, und das in Kleidern, die häufig mehr zeigten, als sie verbargen, aber diese Einzelheit verschwand in der Flut all der anderen überwältigenden Eindrücke.
Hier, in Proknes unmittelbarer Nähe, gab es nichts, was ihn ablenken konnte. Sie roch nach Sandelöl und einem Blumenduft, den er nicht ausmachen konnte, und der Gürtel, der dreimal um ihren Chiton geschlungen war, betonte ihre anmutigen Formen. Als er wieder nach einem Moströllchen griff, tat sie das gleiche, und ihre Fingerspitzen berührten sich. Es war, als sei ein Funke auf ihn übergesprungen.
In der nächsten Stunde ertappte er sich dabei, wie er ihr Dinge erzählte, die er für zu selbstverständlich oder zu belanglos gehalten hatte, als daß sie irgendwen kümmern könnten. Das Gefühl, bei Sonnenaufgang, wenn die Luft noch kühl auf den Armen prickelte, auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen; wie ein Eisenschwert anders in der Hand wog als ein Bronzeschwert; die Angst, die ihn manchmal überkam, wenn er sich die Gesichter seines Vaters und seines Bruders ins Gedächtnis rief und feststellte, daß sie verblaßt waren, gefroren zu festen Bildern wie die Reliefs, die er an den Wänden der ägyptischen Paläste gesehen hatte, statt lebendige Wirklichkeit zu sein.
»Romulus schreibt mir«, sagte er bekümmert, »aber manchmal geht eine Botschaft verloren, und manchmal dauert es, bis er oder ich einen Boten finden. Ich glaube, in vier Jahren sind es nur acht Nachrichten gewesen! Und der Vater hat kein einziges Mal geschrieben oder Romulus für sich schreiben lassen. Was ist, wenn sie mich vergessen haben?«
»Für diejenigen, die wir lieben, können wir gar keine Fremden sein«, erwiderte Prokne und faßte damit seine wahre Befürchtung in die Worte, die er selbst nicht gefunden hatte. Er begriff nicht, wie er sie je als kalt und abweisend hatte sehen können.
Prokne ist die wunderbarste Frau der Welt«, sagte er zu Ulsna, als er spät in der Nacht nach Hause kam, einen verheißungsvollen Kuß auf den Lippen und ein jubilierendes Gefühl im Herzen, das ihm mitteilte, Prokne, die Frau, nach der jeder Mann in Korinth sich sehnte und die unter den besten von ihnen wählen konnte, wünsche sich, in seinen Armen zu liegen. Vielleicht irrte er sich, aber sie hatte ihm stundenlang zugehört, sie hatte ihm selbst Geschichten erzählt und ihn zum Lachen gebracht, und sie hatte ihn geküßt. Das Gefühl ihrer weichen Lippen auf den seinen, ihrer Brust, die sich an die seine drängte, war
Weitere Kostenlose Bücher