Die Söhne der Wölfin
Verlustes sprach, das ihn heimsuchte. Also machte er ihr so bald wie möglich seine Aufwartung.
Das Haus, in dem sie dank eines Umstandes, den sie ihm gegenüber mit undurchdringlicher Miene als »die Großzügigkeit des Orakels von Delphi« bezeichnet hatte, lebte, war zwar nicht zweistöckig wie das von Prokne und Arions eigenes Heim, doch es verfügte über einen kleinen Garten im Innenhof, und unter dem Schatten des Lorbeerbaums saß es sich sehr angenehm.
»Es tut mir leid, von deiner Frau zu hören«, sagte Ilian, nachdem sie sich dort niedergelassen hatten. »Als mein Sohn bei euch lebte, war sie ihm gegenüber gerecht und großzügig, und ich muß zugeben, daß ich das Gegenteil befürchtet hatte.«
»Ich hätte nie geglaubt, daß sie vor mir stirbt«, meinte Arion nachdenklich. »Sie war mir selbstverständlich, und nun ist sie fort.«
»Hast du sie geliebt?«
In solchen Momenten wurde es trotz all der vergangenen Jahre deutlich, daß Ilian in vielerlei Hinsicht unter den Griechen eine Fremde geblieben war. Kein Grieche hätte je das Wort für Liebe, das sie gerade gewählt hatte, agape, im Zusammenhang mit einer Frau benutzt. Eros, gewiß; doch agape sprach von einem tiefen Band des Geistes und des Herzens, das man mit einer Frau so wenig knüpfte wie mit einem Pferd, so sehr man es auch brauchte und schätzte. Trotz seiner Traurigkeit konnte Arion nicht behaupten, daß er es anders gehalten hätte.
»Mein Herz war ihr zugetan«, entgegnete er offen, »wohl mehr, als ich glaubte, aber Liebe war es nicht.«
Ilian schüttelte den Kopf. »Dann bedauere ich sie um so mehr.« Sie warf ihm einen raschen Blick zu und lächelte schwach. »Laß mich raten - du dachtest gerade, daß du derjenige bist, der bedauert werden möchte?«
Es steckte ein Körnchen Wahrheit in ihrer Vermutung, und das ärgerte ihn. Er hätte sich daran erinnern müssen, daß jede Unterhaltung mit Ilian irgendwann zu einem Wortgefecht führte, etwas, das er an ihr schätzte, aber nicht gerade dann, wenn ihm nur nach einer verständnisvollen Zuhörerin zumute war. Doch es waren ihm auch andere Gedanken durch den Kopf gegangen, die ihn überraschten.
»Sie hatte ein gutes Leben.«
»Das hat ein Vogel im Käfig auch, vor allem, wenn er nichts anderes kennt. Wenn sie ein gutes Leben hatte, Arion, warum bist du nicht froh darüber und sagst es dir, um deinen Verlust zu mildern? Wärst du vor ihr gestorben, wie du erwartet hattest, dann hätte sie nicht länger ein gutes Leben gehabt. Ihr Käfig wäre immer noch dagewesen, doch der Besitzer, der ihn erträglich machte, nicht mehr.«
Es war, dachte Arion, eine seltsame Art, jemanden zu trösten, wie Essig, der auf eine Wunde geschüttet wurde. Es brannte, doch gleichzeitig erwies es sich als heilend. Bei allen Stacheln bargen Ilians Worte auch etwas Balsam. Es stimmte, eine Witwenschaft wäre schlimm für seine Frau gewesen. Dennoch war er nicht bereit, Ilians Äußerungen einfach so hinzunehmen; sie verdiente es, etwas von ihrer eigenen Medizin zu schmecken.
»Du bist kein Vogel im Käfig«, antwortete er, »aber sag mir, Ilian, kannst du wirklich behaupten, mehr agape erfahren zu haben als meine Frau? Mir scheint, daß dir selbst eros ein Unbekannter sein dürfte.«
»Arion«, gab Ilian eine Spur schneller zurück, als es ihrem gleichmütigen Tonfall entsprochen hätte, »allein der Umstand, daß ich einen Sohn habe, müßte dir doch zeigen, daß ich keine Jungfrau mehr bin, und ich bin sicher, daß Prokne irgendwann mit dir über mich geklatscht hat.«
Diesmal war er es, der sie anlächelte, in der Gewißheit, sie getroffen zu haben. »Man kann auf verschiedene Arten eine Jungfrau sein, mein Kind. Hast du je den Namen eines Geliebten in den Wind gerufen? Hast du je nachts auf deinem Lager gelegen und dich nach einem anderen Menschen verzehrt? Hast du jemals einem anderen gegenübergesessen und deine Sprache zusammen mit deiner Beherrschung verloren, während kalte und heiße Schauer einander in deinem Körper jagten?«
Sie erwiderte nichts. Ein Windstoß ließ den Lorbeerbaum erzittern, und als sich eines der herunterfallenden Blätter in ihrem Haar verfing, streckte Arion die Hand aus und löste es aus ihren sorgfältig aufgesteckten Locken.
»Natürlich nicht«, fuhr er fort, und er hätte nicht sagen können, ob Spott oder Zuneigung in ihm die Oberhand gewannen. »Solange du das nicht erlebt hast, Ilian, solange weißt du nichts von Liebe, ganz gleich, mit wem du das Lager
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