Die Söhne der Wölfin
merkwürdigsten war das Gesicht. Es ähnelte dem seines Bruders Remus, und auch wieder nicht; was den Unterschied ausmachte, war mehr als das Netz aus Falten oder die buschigen Augenbrauen, die sich mit den Jahren offenbar immer mehr einander genähert hatten. Das mochte Remus mit der Zeit ebenfalls geschehen, doch Romulus konnte sich nicht vorstellen, daß Remus ihn oder einen anderen jemals so abschätzend und kühl mustern würde, ohne eine Miene zu verziehen. Es waren Steinaugen, dachte Romulus und spürte einen Herzschlag lang Nähe, die nichts mit Freundlichkeit zu tun hatte. Unsere Augen .
»So«, meinte Amulius schließlich. »Du bist also der junge Mann, der bei seinen Überfällen nie vergißt zu erwähnen, ich sei nicht der rechtmäßige König. Nun verrate mir doch, Schweinehirt, was kümmert einen Latiner, wer bei den Rasna auf dem Thron sitzt?«
»Es kümmert mich«, entgegnete Romulus, »weil du derjenige bist, dem wir unsere Abgaben entrichten. Ich habe mein Heimatdorf verlassen müssen, weil sie zu hoch waren, nur um herauszufinden, daß man auch anderswo jetzt deinem Beispiel folgt. Ihr Tusci preßt uns aus.«
Amulius räusperte sich. »Ich verstehe. Du bestiehlst meine Kaufleute und Herden also nicht etwa aus Gier, wie die Latiner dies schon seit jeher tun, sondern einzig zum Wohl deines Volkes. Welch ungewöhnlicher Edelmut - für einen Schweinehirten.« Unversehens wechselte er ins Griechische. »Oder bist du kein Schweinehirt?«
Es war sinnlos zu hoffen, den gleichen verständnislosen Gesichtsausdruck wie Fabius hinzubekommen, also gab Romulus seinem Zorn freien Lauf. Amulius argwöhnte etwas, aber von ihm zu erwarten, daß er in eine so plumpe Falle tappte, war kränkend. Sollte der König glauben, daß ihn der Spott über den Schweinehirten wütend machte.
Wieder in der Sprache der Latiner fragte Amulius: »Wie lautet der Name deines Vaters, Junge?«
»Warum sollte dich das kümmern, Herr?« gab Romulus zurück. »Er war auch nur ein Schweinehirt.«
Die Augen des Königs verengten sich zu schmalen Schlitzen.
»Und wie«, fragte er langsam, »lautet der Name deiner Mutter?«
Romulus bemühte sich, so verwundert wie möglich dreinzublicken. »Larentia, Herr. Aber warum sollte dich das kümmern? Sie war nur das Weib eines Schweinehirten.«
Einer der Wächter versetzte ihm einen Hieb, hart genug, um seine Unterlippe aufplatzen zu lassen. Der König hielt ihn nicht zurück, doch er winkte ab, als der Mann zum zweiten Mal ausholte.
»Du bist wortgewandt, Hirte«, sagte Amulius. »Ich hoffe für dich, daß du es auch vor Gericht sein wirst, wenn die Kaufleute, die du bestohlen, und die Familien der Männer, die du umgebracht hast, Klage gegen dich führen.«
Damit war das Verhör offenbar beendet; die Männer bekamen Befehl, ihn und Fabius abzuführen. Sie hatten bereits die Schwelle erreicht, als Amulius ihnen nachrief und seine Befehle verdeutlichte. Fabius sollte bleiben. Romulus sollte in den Raum unterhalb des Turan-Tempels gebracht werden, wo die schlimmsten Verbrecher auf den Tag des Gerichts warteten.
Fabius, dachte Romulus, war kein Weichling. Und selbst wenn seinem Gefährten die Zunge gelöst werden würde, so hätte Amulius doch nicht viel gewonnen; Fabius wußte nichts von den Dingen, die wirklich wichtig waren. Er stammte aus der Gegend um Xaire, war erst kürzlich zu ihnen gestoßen, und für ihn war das ganze Unternehmen nur ein Raubzug größeren Stils, bei dem es gegen die Tusci ging.
Die Männer, die ihn abführten, machten einige Bemerkungen darüber, daß Romulus seine Unverschämtheit schon noch bereuen werde, wenn er erst auf die Gnade des Königs angewiesen wäre. Er ignorierte sie und begann darüber nachzugrübeln, wo wohl Amulius’ Stärken im Kampf liegen würden, nun, da er den Mann gesehen hatte. Damit war er so beschäftigt, daß ihn der neben ihm stehende Krieger erst anbrüllen mußte, ehe er bemerkte, daß der Trupp angehalten hatte.
Der Grund dafür, so stellte sich heraus, war eine Frau, die zuviel Schmuck trug, um etwas anderes als ein Mitglied der königlichen Familie zu sein. Um ihr Haar und ihre Schultern lag ein golddurchwirkter Schleier, und das enggewickelte, rote Gewand war reich mit Blumenmustern bestickt. Es enthüllte mehr, als es verbarg, doch die Frau war gerade noch auf der richtigen Seite von üppig, um es sich leisten zu können.
»Du bist der Barbar, der die Kaufleute überfällt, nicht wahr?« fragte sie ihn und schmollte.
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