Die Söhne der Wölfin
immer noch der Eroberung wert.
Man brachte sie hügelaufwärts, und Romulus brauchte keine großen Geistessprünge zu machen, um zu schlußfolgern, daß ihr Ziel nicht der Kerker, sondern zunächst der Palast sein würde. Amulius mußte entsprechende Befehle gegeben haben. Gut. Er wollte keinen schwachen alten Mann zum Gegner, wie den, den er zur Verwirklichung seines eigenen Planes in Tarchna besucht hatte, ehe er das Vorhaben seiner Mutter in die Wege leitete. Ziegelrot wie eine Blume, in deren Kelch sich giftige Pollen verbargen, ragte schließlich der Palast vor ihm auf, und Romulus gestattete sich einen kurzen Moment, um den Anblick zu würdigen. Er wunderte sich, daß sein Herz nicht schneller schlug. Vielleicht, weil der Palast zwar ein Ziel war, aber nicht das eigentliche, nicht das wichtigste, nicht das beste.
Darüber nachzugrübeln blieb keine Zeit; sein Zögern brachte ihm ohnehin schon einen weiteren Rippenstoß ein. Inzwischen hatte sich eine kleine Horde Gassenjungen gebildet, die ihnen folgte und lauthals rief, man habe den Anführer der latinischen Räuber gefangen, was einige Leute auf die Straßen brachte, die Flüche in Romulus’ Richtung schleuderten, und andere, die ihn nur stumm beobachteten. Vor dem Palast wichen sie alle zurück, sogar die Kinder. Hier würde der Gerichtstag stattfinden. Romulus fragte sich, wie viele Leute dann wohl kommen würden, um ihn zu sehen.
Er hatte Fabius streng eingeschärft, nur mit ihm zu sprechen, wenn sie allein waren, und selbst dann nicht, wenn es sich vermeiden ließ, und er war erfreut zu sehen, daß sich sein Gefährte daran hielt, während man sie durch die Gänge des Palastes führte, obwohl Fabius sich immer öfter auf die Lippen biß. Der gute Fabius hatte vermutlich noch nie ein Gebäude dieser Größe betreten. Bei Romulus lagen die Dinge etwas, wenn auch nicht viel, anders, und er war zudem entschlossen, sich von nichts in dieser Stadt beeindrucken zu lassen. Die Malereien an den Wänden sprachen so wenig zu ihm wie die übrigen Einzelheiten. Es fehlte ihnen die Wirklichkeit. Erde in seiner Hand, Blut auf seiner Hand, das war wirklich. Gestalten an Wänden, ganz gleich, wie anmutig sie sein mochten, bedeuteten nichts, weniger als die Schriftzeichen auf dem kostbaren ägyptischen Papyrus, die ein Schlüssel zu seiner Rache geworden waren.
Er horchte in sich hinein und spürte nichts als Kälte und Ruhe, selbst dann nicht, als er seinen linken kleinen Finger, den sie so sorgfältig geschient und verbunden, wie sie ihn gebrochen hatte, versuchsweise bewegte, um den Schmerz zurückzuholen. Gut. Er war nichts als Erwartung, er war die Zukunft, er war ein neues Blatt Papyrus, das nur von ihm selbst beschrieben werden würde.
Als Amulius den Raum betrat, in den man sie gebracht hatte, wußte Romulus sofort, um wen es sich handelte. Nicht, weil der Mann wesentlich reicher oder besser gekleidet gewesen wäre als die ersten paar Tusci, die ihnen im Palast über den Weg gelaufen waren. Er trug auch keine der königlichen Insignien, wie die Doppelstreitaxt, die die Tusci ihren Königen bei ihren Gerichtstagen zwischen die Beine legten; die einzige sichtbare Waffe war ein Messer an seiner Seite. Nein, was diesen Mann zu Amulius, dem derzeitigen König von Alba, machte, machen mußte, war, daß sich die Haltung aller Tusci veränderte, als sie seiner ansichtig wurden. Das war es, dachte Romulus, was einen König ausmachte: die Fähigkeit, jedermanns Aufmerksamkeit sofort auf sich zu ziehen.
»Welcher von euch ist der Anführer?« fragte Amulius, erst in der Sprache der Tusci, dann in der der Latiner. Es war aufschlußreich, daß er letztere beherrschte; gewiß, in seinem Heer dienten Latiner, doch das traf auch auf andere Tusci-Heere zu, und der alte Mann in Tarchna hatte kein Wort außer Tusci gesprochen. Andererseits fand es Romulus ein wenig enttäuschend, daß Amulius fragen mußte. Auch das war ein Grund gewesen, Fabius mitzubringen; eine Prüfung, die Amulius nicht bestand.
Unter anderen Umständen hätte er den Mann noch etwas raten lassen, doch nicht unter diesen. »Ich bin es«, erwiderte er in seiner eigenen Sprache und trat vor.
Amulius aus der Nähe zu sehen war eigenartig. Der Mann mußte älter sein als Faustulus und hatte genügend graue Haare, um das zu bestätigen, aber seine Haltung war aufrecht wie die eines Jünglings. Die sehnigen Arme und Beine zeigten geübte Muskeln, selbst wenn die gegerbte Haut wiederum das Alter verriet. Am
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