Die Söhne der Wölfin
und rutschte auf seiner Bank etwas weiter, um von der Seite aus ihr Gesicht sehen zu können. Tatsächlich, sie weinte. Er beschloß, sich keine voreilige Meinung mehr über diese Frau zu bilden. Jedesmal, wenn er sich eine zurechtgezimmert hatte, tat sie etwas, um seine Einschätzung zu erschüttern. Da war er schon halbwegs bereit gewesen, sie als eine nicht ganz menschliche Magierin zu akzeptieren, und dann heulte sie wie ein Kind, oder besser, wie eben ein Weib. Nicht, daß es ihm mißfiel. Frauentränen machten Arion nur befangen, wenn sie ihm selbst galten, doch das hier hatte ganz offensichtlich nichts mit ihm zu tun. Das seltsame Mädchen saß nur da und schluchzte vor sich hin, zu Tränen gerührt von einem Klagelied, wie man es so oder ähnlich überall sang. Er verbiß sich eine Bemerkung und stellte nur für sich fest, daß die Welt wieder in Ordnung war. Frauen weinten. Das war normal. Und wenn es noch so wenig zur Selbstsicherheit von vorhin paßte. Sie schniefte und machte eine Geste, wie sie Arion aus seiner Kindheit vertraut war; mit dem Handrücken rieb sie sich über die Augen und versuchte, die hellen Tränenspuren auf ihrem Gesicht zu verwischen. Abrupt fragte er sich, wie alt sie wohl war. Er wußte immer noch nicht, wie er ihr begegnen sollte, wenn sie sich wieder umdrehte, und war erleichtert, als ihm ein weiteres Ereignis, mit dem er nicht gerechnet hatte, einen Aufschub gewährte.
Einer der phönizischen Seeleute, der mehr Glück als Arion gehabt und ein vollbusiges Prachtstück ergattert hatte, saß dem Harfenspieler am nächsten. Er brüllte etwas und schlug dem Jungen ins Gesicht, nicht mit der geöffneten Handfläche, sondern mit der Faust. Als das Kind zu Boden stürzte, sprang Arions rätselhafte Unbekannte auf und marschierte geradewegs auf den Phönizier zu. Erst als sie bei ihm angekommen war, entdeckte Arion zu seiner Verblüffung, daß er sich ebenfalls erhoben hatte, und teilte sich selbst mit, daß er sich nur um eine gewinnbringende Möglichkeit, seine Zukunft als Kaufmann zu retten, sorgte. Das eigenartige Mädchen sagte etwas zu dem Phönizier, woraufhin diesem das Kinn herunterfiel, dann wandte sie sich dem Knaben zu, legte einen Arm um seine Schultern und half ihm, aufzustehen.
Als der Junge wieder stand, zeigte sich, daß er doch älter sein mußte, als Arion aufgrund der reinen Kinderstimme angenommen hatte. Er war genauso groß wie seine selbsternannte Retterin, wenn auch wesentlich dünner. Der Chiton, den er trug, hing wie ein übergestülpter Sack an ihm herab, und woher er mit den dünnen Armen überhaupt die Kraft genommen hatte, die Saiten einer Harfe zu schlagen, war Arion ein Rätsel. Er kam nicht dazu, darüber nachzugrübeln, denn der Phönizier, der sich offenkundig von seinem Erstaunen über die Einmischung des Mädchens erholt hatte, machte Anstalten, noch einmal zuzuschlagen, und diesmal nicht in Richtung des Jungen.
Es galt, sein Geschäft zu beschützen. Außerdem, wer konnte wissen, ob das Mädchen nicht imstande war, einen Blitz geradewegs in diese Schenke zu lenken? Man mußte nicht nur dem Phönizier dieses Schicksal ersparen, sondern auch sich selbst die möglichen Folgen. Arion seufzte, dann stürzte er sich in das, was er an diesem Abend gerade hatte vermeiden wollen.
O Poseidon«, stöhnte Arion und ließ sich auf die Matte sinken, die ihm auf See als Lager diente, »verrate mir, warum ich mich für zwei wildfremde Rasna grün und blau prügeln ließ und sie danach noch an Bord meines Schiffes gebracht habe, und ich sterbe als zufriedener Mann.«
Die beiden Männer, die als Wachen aufgestellt waren, hatten ihm merkwürdige Blicke zugeworfen, als er, links und rechts auf seine beiden Begleiter gestützt, erschienen war, doch nichts weiter gesagt. Er konnte sich allerdings vorstellen, was sie dachten, während sie jetzt am Heck des Schiffes kauerten, wo Rautengitter ihre immer noch verstauten Waren vor Wind, Wetter und möglichen Dieben abschirmten. Das Mädchen, das an allem schuld war, hatte wesentlich weniger abbekommen als er, doch es hatte gereicht, um ihr Kleid aufzureißen, so daß sie danach mit halbentblößter Brust durch die Gegend lief. Der Junge hatte sich irgendwie ganz und gar aus der Schlägerei herausgehalten, doch immerhin war er es gewesen, der Arion vom Boden aufgehoben und ihn gestützt hatte, während das Mädchen noch mit dem Wirt verhandelte, der sie, unterstützt von seinen Leuten, samt des Phöniziers und seiner
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