Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Söhne der Wölfin

Titel: Die Söhne der Wölfin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
Vom Netzwerk:
reichen schon.«
    »Gewiß«, entgegnete sie, ohne die Augen zu öffnen, »aber kann dir ein Blick zum Himmel auch verraten, wo die Blitze einschlagen werden, Seemann?«
    Das brachte ihn zunächst zum Schweigen. Selbst die Priester in seiner Heimat behaupteten nicht zu wissen, wohin Zeus seine Blitze lenken würde. Er trank den Rest seines Bechers leer, schenkte sich nach und fragte schließlich:
    »Wo?«
    »Überprüfen können wirst du es nur bei einem, denn die anderen Blitze werden nicht von der Art sein, die verbrennt. Geh morgen zum Urste-Hügel hinter dem Nethuns-Tempel. Dort wird der verbrennende Blitz heute nacht einschlagen. Wenn du bei Sonnenaufgang hingehst, wirst du erleben, wie die Priester des Nethuns den Ort entsühnen, und die Spuren des Blitzes sehen, ehe sie das Grab schaufeln.«
    »Das Grab?« fragte Arion, mehr, um überhaupt etwas von sich zu geben und zu beweisen, daß sie ihn nicht sprachlos gemacht hatte.
    »Das Blitzgrab«, erklärte sie mit einer Spur Ungeduld. »Der Ort, an dem ein verbrennender Blitz einschlägt, muß entsühnt werden, und zwar durch das Vergraben aller vom Blitz getroffenen Gegenstände und durch ein Schafopfer. Läßt man bei euch in Korinth Blitzschlagstellen etwa ungesühnt?«
    In Korinth betrachtete man Blitze als Unglückszeichen, über die man tunlichst wenig nachdachte, es sei denn, sie verursachten einen Brand, aber das ging sie nichts an. Arion war sich immer noch nicht sicher, ob er es mit einer Verrückten, einer gerissenen Betrügerin oder einer unheimlichen Magierin zu tun hatte, und beschloß, einen Mittelweg zwischen Höflichkeit und Spott einzuschlagen.
    »Warum sollte ich dir unsere Gebräuche verraten, wenn es die Götter genausogut selbst tun könnten?« erwiderte er und überließ es ihr, seine Antwort als gläubig oder ungläubig zu deuten. Etwas unzusammenhängend setzte er hinzu: »Ich kenne noch nicht einmal deinen Namen.«
    Endlich öffnete sie wieder die Augen, um ihn anzusehen. Sie hob eine Braue und meinte: »Das stimmt, du kennst ihn nicht.«
    Er wartete, bis ihm klar wurde, daß sie nicht daran dachte, mehr zu sagen. Ganz gleich, ob Magierin, Verrückte oder Betrügerin, jemand hätte sie als Kind übers Knie legen sollen. Sie war entschieden zu selbstsicher und zu sehr von sich eingenommen. Aber zu seinem Entsetzen entdeckte Arion, daß er anfing, sie zu mögen. Selbst wenn sie über keine Magie verfügte, den Mumm zum Verhandeln hatte sie eindeutig. Das stimmte ihn hoffnungsvoller in bezug auf seine fast schon verlorengegebenen Gewinnaussichten. Was die Männer zu einer Frau an Bord sagen würden, konnte er sich allerdings jetzt schon ausmalen. Vielleicht ließ sie sich ja mit einer anderen Belohnung abspeisen.
    »Warum willst du eigentlich unbedingt nach Hellas?« fragte er neugierig.
    »Ich muß das Orakel in Delphi aufsuchen.«
    Es erstaunte ihn, eine Antwort zu bekommen, die einleuchtend klang. Das Orakel in Delphi war das geachtetste Orakel der Welt, seit Ägypten in nubische Hände gefallen war und das Orakel Amons nur noch selten sprach. Wenn sie nicht gelogen hatte, was ihren Stand anging, dann war das Orakel in Delphi für jemanden wie sie ein verständliches Ziel. Was er allerdings nicht begriff, war, warum sie dann ihn und sein Schiff für ihre Reise brauchte. Das Orakel von Delphi empfing Gesandtschaften aus aller Welt; er war selbst schon solchen Reisenden begegnet. Sie reisten immer in Gruppen, zumal, wenn sie priesterlichen Standes waren.
    In der eingetretenen Stille, die sich zwischen ihn und das Mädchen gesenkt hatte, hörte er nun wieder den Gesang des harfespielenden Jungen. Der Lärm in der Schenke mußte etwas weniger geworden sein, denn jetzt schälten sich einzelne Worte für ihn wesentlich deutlicher heraus. Nicht, daß er das Kauderwelsch der Rasna deswegen besser verstand.
    »Wovon singt er eigentlich?« sagte er mehr zu sich selbst als zu dem Mädchen. Trotzdem antwortete sie ihm, während sie sich zu dem Jungen umdrehte, um ihn zu beobachteten.
    »Es ist ein Abschiedslied.« Halblaut begann sie zu übersetzen. » Weit bin ich von dem Land, dem Land, wo die Töchter Turans mir lachten; meine Heimat, ich hab sie nicht mehr. Weit bin ich von den Freunden, den Freunden, die mein Leben mir schützten; meine Freunde, ich hab sie nicht mehr. Weit bin ich von dem Kind, das in den Armen mir lachte; mein Kind, mein Kind, ich hab es... «
    Ihre Stimme klang erstickt und verklang schließlich. Er sah ihre Schultern zucken

Weitere Kostenlose Bücher