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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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Indigo gesagt hat. Du darfst nicht vergessen … sie sind vielleicht nicht mehr ganz das, was sie mal waren. Aber wirklich nur vielleicht.«
    Gereizt ließ Joey die Arme nach unten fallen. »Ich weiß nicht mal, was sie sind!« Doch die Musik tanzte aus den Tiefen des roten Waldes hervor, stark und seltsam, erfüllte sie mit einem Sinn, wie sie ihn noch niemals in sich getragen hatte. Sie sagte: »Okay. Okay, wie auch immer, Ko.« Es war das erste Mal, daß sie den Satyr beim Namen nannte.
    Der rote Wald – Ko sagte, er heiße »Abendrotwald« – fühlte sich für Joey wie ein Lebewesen an, von dem Moment an, als sie mit Ko die ersten Bäume passierte. Die untersten Äste ragten hoch über ihr auf, ihre Schatten warm auf ihrem Gesicht, und wohin auch immer sie ihren Fuß setzen mochte, schien der Waldboden mit einem Pochen zu antworten. Die Musik Shei’rahs schien überall zu pulsieren, nicht nur da, wo sie stehenblieb, um zu lauschen, sondern auch in ihr selbst, sie sprach eindringlich zu ihr, an dem geheimen Ort, an dem ihre eigene Musik entstand. Sie fühlte sich sanft von mächtigen, rubinroten Händen gehalten und atmete tief ein.
    Im Abendrotwald wurde es nie richtig dunkel, so weit Joey und Ko sich auch hineintasten mochten. Die Sonne war inzwischen untergegangen, doch der Wald schien aus seinem Inneren heraus zu glühen, und es wurde niemals kühl. In der leuchtenden Stille hörte sie das ängstliche Huschen sehr kleiner Füße, das stille Seufzen großer Flügel über ihr und ein schweres, zielstrebiges Wumm-wumm-wumm in nächster Nähe, das sie überall sonst erschreckt hätte. Doch der Satyr zog an ihrer Hand, erklärte: »Hier entlang, Tochter«, und die Musik murmelte: »Hier entlang, hier entlang.« Joey folgte ihnen.
    Und dann wichen die roten Bäume zurück, teilten sich wie hohes Gras im Wind, und Joey und Ko traten auf eine Lichtung unter einem Himmel, an dem die Sterne so dicht an dicht herumwirbelten, als schneite es im Abendrotwald. Die Ältesten standen in der Mitte der Lichtung und warteten.
    Einer war groß und alt wie die Bäume selbst – und so schwarz, daß die Nacht um ihn herum erblaßte. Ein anderer, blaugrau wie eine Sturmwolke, war die reine Augenweide, der dritte war schlanker, mit längerem Leib und einem anmutigen, dichten Bärtchen, er sah aus, als bestünde er aus Meeresschaum, verziert mit grüner Phosphoreszenz. Aufrechten Hauptes standen sie da, ihre hübschen Schwänze schwebten wie Geister in der roten Nachtluft, und ihre langen Muschelhörner leuchteten im Sternenlicht. Die Musik erblühte um sie herum.
    Joeys Herz machte einen Sprung, und sie wollte ihnen in die Augen sehen. Sie waren zugeschwollen, die Augen der drei Ältesten, so dick mit blaugrüner Kruste überzogen, daß sie beinah wie juwelenbesetzt aussahen. Da wußte Joey, daß die Ältesten blind waren.
∗ Viertes Kapitel ∗
    Joey erwachte im Sonnenlicht, sie lag auf der Seite, unter einem roten Baum zusammengerollt, mit weichen Zweigen zugedeckt, der Wärme wegen, und zwei Einhörner blickten auf sie herab. Eines davon war das Einhorn, das irgendwie aussah, als wäre es nicht
    ganz so aus Fleisch und Blut wie die anderen, sondern eher eine Schöpfung aus Meer und Wind. Das andere war viel kleiner, von der Farbe des Sternenlichts, verspielt und zappelig, zu jung, um stillzustehen, zu rastlos, um würdig zu wirken. Es war das leise Trommeln seiner Vorderfüße auf der Stelle, das sie geweckt hatte. Joey hielt den Atem an, als sie merkte, daß in seinen mondfarbenen Augen die ersten Anzeichen der Verkrustungen zu sehen waren, welche die drei großen Ältesten hatten erblinden lassen.
    Das kleine Einhorn sagte eifrig: »Mutter, da, siehst du? Sie ist aufgewacht!«
    Joey setzte sich auf, schüttelte die Blätter aus den Haaren. »Hallo«, sagte sie, die Stimme heiser und knarrend, so wie sie am Morgen immer klang. »Wo ist Ko?«
    Das zweite Einhorn trat vor, mit gemächlich fließenden Bewegungen wie Quecksilber. Die Blindheit schien seinen Tritt nicht zu hemmen, und es sah Joey direkt an und sagte: »Ich bin Fireez, und das hier ist Touriq, mein Sohn. Hast du gut geschlafen?« Seine Stimme klang leicht und leise, mit einem Hauch von Humor unter der Oberfläche.
»Ich glaube schon«, sagte Joey. »Habe einen Haufen verrückter Sachen geträumt, nur bin ich mir gar nicht sicher, ob es wirklich Träume waren.« Sie hielt inne, sagte dann langsam: »Ihr seid die Ältesten, hat Ko mir erzählt.«
    »Wir sind die

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