Die Sonate des Einhorns
Ältesten der Ältesten«, antwortete Fireez. »Abgesehen von ihm.« Sie nickte ihrem Sohn zu, der Joeys Wanderstiefel untersuchte. Wo sein Horn sie berührte, fielen Staub und Erde von ihnen ab, und sie glänzten wie das Horn selbst. Joey sagte: »Da war auch ein Schwarzer.«
Fireez senkte die Stimme. »Das war der Lord Sinti.«
Aufgeregt mischte Touriq sich ein. »Du bist eingeschlafen, und er hat dich auf seinem Rücken hierher getragen! So was tut Sinti sonst nie\ Er lebt ganz allein, Sinti ist selten zu sehen, so gut wie nie – ich habe ihn bis gestern abend noch nie gesehen. Du mußt sehr wichtig sein, für eine Außerweltliche …«
»Touriq«, sagte seine Mutter, und nicht mehr, doch das junge Einhorn war augenblicklich still. Fireez sagte: »Der Lord Sinti ist der Älteste von allen. Wir haben kein Wort für das, was er ist.« Dann lachte sie – ein plötzliches, absurdes, wundersames, kleines Kichern – und fügte hinzu: »Verzeih mir, daß ich unhöflich bin, aber ich frage mich die ganze Zeit, was zwischen euch geschehen ist, als er dich hergetragen hat. Hat er überhaupt mit dir gesprochen?«
Joey kam mühsam auf die Beine. »Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht.« Sie fing an zu lächeln, dann hielt sie abrupt inne, sagte: »Nein, es war ein Traum, das weiß ich genau. Ich dachte, er wollte mich etwas über Abuelita, meine Großmutter, fragen. Muß ein Traum gewesen sein, denn sonst… woher sollte er denn etwas von ihr wissen, hier in Shei’rah?«
»Der Lord Sinti weiß alles\« platzte Touriq heraus, und seine Mutter sagte das gleiche, nur etwas gesetzter. »Ich glaube, wenn man so alt und so weise wie der Lord Sinti ist, haben Dinge wie ›Grenzen‹ nur noch wenig Bedeutung.« Sie stupste Touriq, der schon wieder mit den Vorderfüßen herumtrappelte und offensichtlich kurz davor war, sie zu unterbrechen. »Mein Sohn ist albern und ungezogen, denn er ist noch nicht einmal zwei Jahrhunderte alt…«
»Warte«, sagte Joey. »Warte, warte, tut mir leid, entschuldige. Jahrhunderte?« Sie starrte die beiden an: der Sohn von grenzenlosem Eifer, frech wie ein Spatz, die Mutter von bedächtiger Anmut, meeresweiß, doch stetig bebend zwischen meeresblau und meeresgrün, die Wucherungen an ihren Augen wie ein böser Hohn auf ihre natürliche Farbe.
»Wir sterben nicht«, antwortete Fireez leise. »Man kann uns töten, aber wir sterben nicht eines natürlichen Todes, wie es selbst die Tirujai tun. Wir waren niemals krank… früher.«
»Du meinst deine Augen«, sagte Joey. »Könnt ihr wirklich nichts sehen? Keiner von euch?« Sie deutete auf Touriq, der inzwischen eingebildet umherstolzierte, während einer ihrer Stiefel an den Bändern von seinem Horn baumelte. »Ich meine, er kann doch prima sehen.«
»Ich sehe besser als irgendwer«, prahlte Touriq. Fireez brachte ihn zum Schweigen, sagte: »Die meisten unserer Jüngsten haben ihr Augenlicht noch, aber nicht alle. Es ist erst kürzlich über uns gekommen – kurz bevor Touriq geboren wurde – und selbst der Lord Sinti hat den Grund dafür noch nicht herausgefunden. Er wird dir mehr erzählen können als ich.«
Joey holte tief Luft. Sie sagte: »Jahrhunderte«, schüttelte sich wie ein nasser Hund und fing an, in ihre Stiefel zu steigen, während die Einhörner warteten, ernst und neugierig, was sie nun tun würde. Schließlich sah sie die beiden an, seufzte und sagte: »Es kann nicht zufällig sein, daß ich einen Unfall hatte, als ich gestern nacht aus dem Haus gegangen bin, und in Wirklichkeit im Krankenhaus auf der Intensivstation liege?« Verblüfft sah Touriq seine Mutter an. Joey seufzte noch einmal. »Wohl nicht. Okay, also ist alles blanke Realität, und ich bin hier, und ihr seid in der Tat Einhörner und unsterblich. Aber wenn ihr nicht sehen könnt, woher wißt ihr dann, daß ich hier bin?«
Voller Verwunderung sah Touriq seine Mutter an. Fireez antwortete geduldig: »Wir fühlen, daß du da bist. Du wirfst einen Schatten auf unsere Gedanken, fast wie ein Baum oder ein Vogel oder das Wasser. Wir haben gelernt, uns so zu bewegen, von Schatten zu Schatten. Außerdem formen wir die Worte nicht mit unseren Mündern wie ihr und Ko und die anderen Tirujai es tun. Wir sprechen mit unseren Gedanken. Du hörst uns in deinen Gedanken.«
Da tauchte Ko auf, von den haarigen Armen bis hoch zum Kinn mit leuchtenden, duftenden Früchten beladen. Joey erkannte nur die Javadurs, vom Rest suchte sie sich ein paar runde, rote Gebilde aus, die
Weitere Kostenlose Bücher