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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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man dich nicht vermißt haben. Das verspreche ich dir.«
    »Warte«, sagte Joey. »Warte, warte, warte, warte. Du sagst, ich kann hier so lange bleiben, wie ich will, und wenn ich nach Hause komme, ist immer noch gestern nacht? Wow, tut mir leid, ich möchte nicht ungezogen sein, aber das ist schon schräg. Mir wird ganz flau im Magen, wenn ich nur daran denke.«
    Sinti gab keine Antwort. Joey ging neben ihm her, versuchte, sich nur auf die Musik zu konzentrieren. In Gesellschaft der Einhörner schien sie klarer und viel näher zu sein, dennoch blieb sie seltsam flüchtig, trällerte dreist aus Bächen und Steinen und roten Bäumen hervor, tanzte, wo immer sie wollte. Zögernd fragte sie: »Wieso werdet ihr alle blind? Ich meine, Jahrhunderte, da müßte doch jemand inzwischen was dagegen gefunden haben.«
    »Es hat mit eurer Welt zu tun«, sagte das schwarze Einhorn. »Mit der Verbindung, dem Band zwischen uns. Mehr weiß ich auch nicht, mehr kann ich nicht sehen, und das genügt nicht.« Aus der Stimme in ihrem Inneren klang leise Verbitterung. »Ich bin Sinti, ich bin der Älteste der Ältesten, ich sollte im Besitz aller Weisheit sein. Ich habe die Meinen niemals enttäuscht, habe Shei’rah nicht ein einziges Mal enttäuscht. Immer mehr der Meinigen verlieren tagtäglich ihr Augenlicht, dennoch leben sie in absolutem Vertrauen darauf, daß ich ein Gegenmittel finden werde. Und ich kann weder ihnen helfen noch mir selbst. Ich kann ihnen nicht helfen.«
    »Das tut mir leid«, sagte Joey. »Das tut mir wirklich leid. Die können inzwischen alles mögliche mit den Augen machen … in meiner Welt, aber das wird euch wohl nicht viel helfen in Shei’rah.«
    Sinti sagte nichts mehr, und gemeinsam gingen sie weiter. Joey sah, wie der Abendrotwald vor dem schwarzen Einhorn erblühte und sich erwärmte: Sie sah unbekannte Blumen, die sich eilig öffneten, erspähte die Tiere und Halbtiere, die im Unterholz kauerten, um den Lord Sinti im Vorübergehen zu betrachten, und sie hörte, daß der Wald selbst Klänge von sich gab, die fast unhörbar waren.
    Abrupt blieb Sinti stehen, und erneut spürte Joey die süße, zermürbende Benommenheit, die einen überkommt, wenn man in die Augen der Ältesten blickt, ob sie einen nun sehen können oder nicht. Er sagte: »Hör mir zu. Es gibt da etwas, was ein paar Sterbliche wissen sollten. Hör gut zu, Josephine Angelina Rivera.«
    Durch seine unhörbare Stimme wogte und kräuselte sich ihr Name, wie Joey es nie für möglich gehalten hätte. Sie nickte geduldig, und Sinti sagte: »Wir können unsere Gestalt verändern. Wir können wie ihr aussehen.«
    Joey nickte wieder geduldig. Sinti fuhr fort: »Nicht oft, sehr selten. Ich habe meine Gestalt seit sehr langer Zeit nicht mehr verändert, und die meisten von uns haben vergessen, daß sie so etwas überhaupt können. Aber so ist es … wir können menschliche Gestalt annehmen und die Grenze in eure Welt überschreiten, und gelegentlich tun wir es auch. Du bist den Ältesten bereits begegnet, Josephine Rivera.«
    Zwischen den Bäumen, hinter seiner hohen Schulter, bemerkte Joey eine Bewegung und weites Grün, und sie hörte in der Ferne die unternehmungslustige Musik von Shei’rah. Sinti fuhr fort: »Zu allen Zeiten sind einige von uns unter euch gewesen. Die meisten bleiben nur kurze Zeit, einen Augenblick von eurer Zeit, gerade so lange, daß man sie sehen, es nicht glauben und sie nie wieder vergessen kann. Doch gibt es auch andere, nur wenige… bist du nie auf Legenden von ewigen Wanderern gestoßen, die an verschiedenen Orten unter verschiedenen Namen überliefert werden, menschliche Lebensspannen auseinander? Das waren Älteste: Gelehrte und Entdecker und Kartographen eurer Welt. Doch auch diese kommen beizeiten heim nach Shei’rah, sie können nicht anders. Eure Welt tötet uns, die meisten früher, einige erst später. Das dürfen wir nie vergessen.«
    Joey dachte an den Jungen Indigo, messerscharf zeichnete er sich im trüben Licht von John Papas’ Musikgeschäft ab, als er die ersten erschreckend fröhlichen Töne der Musik spielte, die sie aus der einen Welt in die andere gelockt hatte. Sie nahm allen Mut zusammen, um Sinti nach Indigo zu fragen, doch die Worte wollten nicht heraus, und statt dessen platzte sie heraus: »Wenn ihr … wenn die Ältesten unsere Gestalt annehmen, was geschieht dann mit den Hörnern?«
    »Unsere Hörner nehmen wir ab, wenn wir uns verwandeln«, antwortete Sinti. »Wir haben sie immer bei uns.

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