Die Sonate des Einhorns
Das müssen wir, sonst können wir nie mehr heimkehren. Und einer der Ältesten, der nicht nach Shei’rah heimkehren kann, muß sterben.«
Joey merkte, wie ihr plötzlich ganz kalt wurde, und sie fröstelte in der schwachen Morgensonne Shei’rahs. »Aber wenn jemand sein Horn verliert oder es vielleicht verkauft hat…«
Das schwarze Einhorn war schon weitergegangen. Jetzt blieb es stehen und sah auf sie herab, und plötzlich fürchtete sich Joey mehr als vor den Perytonen, die sie verfolgt hatten. Sie trat einen Schritt zurück und hörte ihn erneut in sich selbst. »Ich weiß nicht, was verkauft heißt, Josephine Rivera.«
Dann war er verschwunden, so lautlos, wie er gekommen war, und so schnell, daß Joey nicht sagen konnte, in welche Richtung er verschwunden war. Sie fing an, ihm hinterher zu rufen, doch es schien ihr seltsam und vermessen. Sie zögerte nur kurz, bevor sie sich umwandte und allein weiterging, zügig, den Blick nach vorne gerichtet, bis sie an den Rand des Abendrotwaldes kam.
Und dort, auf einer sonnenbeschienenen Ebene, ohne jeden Baum, doch vor wilden Blumen leuchtend, die weit und immer weiter wucherten, bis hin zu meeresgrünen Hügeln und jenseits davon meeresblauen Hügeln, sah Joey die Ältesten. Es waren Dutzende von ihnen, Hunderte, und sie hatten jegliche Farbe, nicht dieses reine Weiß, in dem Joey stets Einhörner abgebildet gesehen hatte, sondern braun, sturmgrau, schwarz wie der Lord Sinti, tiefrot wie die Bäume im Abendrotwald, es gab sogar ein paar, die so golden rosafarben waren wie die Morgenröte. Manche grasten, andere liefen freudig von hier nach dort um die Wette, die Jüngsten fochten mit ihren kleinen Hörnern, aggressiv und spielerisch. Manche fanden sich in kleinen Gruppen zusammen, ließen die Köpfe auf den Rücken anderer ruhen, andere standen weit auseinander und rührten sich nicht… sie leuchteten so sehr in dieser Ebene, daß Joey die Augen übergingen, während die Musik ihr Herz erfüllte. Benommen, entzückt, gedankenlos ging sie ihnen entgegen.
Die Einhörner schenkten ihr keine Beachtung, bis sie ziemlich nah war. Ein Kopf nach dem anderen hob sich, und leise Klangwellen breiteten sich immer weiter aus. Es war nicht das schrille Wiehern von Pferden, sondern ein sanfter Ruf aus zwei Tönen, knapp und vogelähnlich. Manche wichen ihr mit Bogensprüngen scharf aus, doch die meisten blieben stehen oder machten Platz, um sie durchzulassen. Zwei der Einhörner jedoch kamen direkt auf sie zu. Diese waren von einer Art, die ihr bisher noch nicht begegnet war: beide rot, so groß wie Sinti, nur merklich massiger, die Hälse muskulös, damit sie ihre Hörner tragen konnten, die sicher einen Meter lang waren. Ihre Hufe waren größer, ihre Mähnen und Schweife schwerer und derber, und sie gaben ein leises, warnendes Geräusch von sich, während sie näher kamen.
»Ich bin Joey«, sagte sie laut. »Ich bin eine Freundin von Sinti… ich meine, ich kenne ihn.« Sie stand wie angewurzelt.
Die Einhörner blieben kaum eine Horneslänge vor ihr stehen. Aus der Nähe hatten sie – anders als die Einhörner, denen sie bisher begegnet war – einen kräftigen, wilden Geruch an sich, scharf wie der der Löwen im Zoo. Sie sprachen nicht, sahen einander nur an und musterten dann wieder Joey, während das wilde Geräusch in ihren Kehlen stärker wurde. Joey sagte: »Ich tue niemandem was.«
Sie erfuhr nie, wozu die großen Tiere vielleicht fähig gewesen wären, da sich abrupt eine kleinere Gestalt zwischen die beiden drängte und Fireez’ Sohn Touriq stolz in ihren Gedanken verkündete: »Da, ich habe dich gefunden! Komm mit!«
So unwiderstehlich wie ihr Bruder Scott stieß und schubste er sie wie einen Schleppkahn, schob sie fort von den beiden roten Einhörnern. Die erweckten nicht den Anschein, als wollten sie eingreifen, doch sie sah jedesmal, wenn sie sich zu ihnen umwandte, ihre mißtrauischen Blicke. Touriq sagte: »Achte nicht auf sie. Die wollen nichts Böses. Karkadanns sind einfach so.«
»Wow, die sind unheimlich«, sagte Joey. »Ich bin wirklich froh, daß du aufgetaucht bist. Wie hast du sie genannt?«
»Karkadanns«, antwortete Touriq beiläufig. Er machte seinen Rücken krumm und stieß Joey mit der Schulter an. Er sagte: »Endlich können wir spielen. Steig auf meinen Rücken.«
»Worauf?« Touriqs Schulter war nicht höher als Joeys. »Ich bin zu groß«, sagte sie. »Meine Beine sind zu lang, ich bin bestimmt zu schwer…«
»Steig auf«,
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