Die Sonate des Einhorns
wiederholte Touriq voller Ungeduld. »Klemm deine Beine an meine Flanken, halt dich fest und mach dir keine Sorgen. Komm schon, ich will dich meinen Freunden zeigen!«
Joey schluckte, holte tief Luft und kletterte unbeholfen auf Touriqs Rücken, der sich breiter anfühlte, als sie gedacht hätte, und weit kräftiger. Sie legte sich flach an seinen Hals und spürte das erstaunliche Schwellen von Kraft, als das Einhornfohlen seine schlanken Beine anspannte und vorwärts schoß. Schon beim zweiten Schritt befand er sich in vollem Galopp, und Joey war sich schrecklich sicher, daß er mit dem einen oder anderen der Einhörner kollidieren würde, die so still in seinem Weg grasten. Doch die meisten traten anmutig beiseite, ohne aufzusehen, während eine Handvoll jüngerer sich aufbäumte, herumfuhr, lauthals seine Herausforderung annahm und ihm hinterherstürmte. Die leuchtende Wiese tönte und schimmerte unter ihren Hufen.
Langsam richtete sich Joey auf, Stück für Stück. Touriq lief so schnell, daß ihre Augen vor Tränen brannten, die der Wind hineinpeitschte. Das Feld war ein lodernder, strömender Schleier, das wolkenbruchartige Klappern der Einhornhufe erstickte jegliche Musik. Sie klammerte sich mit den Beinen fest und fühlte dabei die tiefe Leichtigkeit von Touriqs Bewegungen, die Ruhe seines Atems und verstand, daß er sich noch nicht einmal sonderlich anstrengte. Er spielt. Er spielt nur.
Ein silbergraues Einhorn bewegte sich Touriq zur Linken, ein schwarzes zur Rechten, doch keins von beiden konnte ihn überholen. Als sie es schließlich wagte, ihren Kopf zu drehen und zurückzublicken, stöhnte Joey vor Verwunderung auf, als sie die anderen sah: Touriqs Spielgefährten und Begleiter, ein Sturm von Farben, die sich wie der Frühling über Shei’rahs Ebene ergossen. Sie unterhielten sich miteinander im Laufen, und Joey merkte, daß sie das hohe, eindringliche Pfeifen ihrer Schreie kannte… daß diese zu der Musik gehörten, die Indigo in Mr. Papas’ Laden gespielt hatte, zu der Musik, die sie aus dem Bett an diesen Ort, in diesen Augenblick gelockt hatte. Sie warf den Kopf in den Nacken, trat mit den Fersen an Touriqs Flanken und schrie ihren eigenen, wilden Schlachtruf in den Wind hinaus.
Die Einhörner ließen sich von ihrem Wettlauf weit in die umliegenden Gebirgsausläufer tragen, bevor sie auch nur ein wenig langsamer wurden. Ihr unverstelltes Vergnügen, ihre Freude an sich selbst durchfuhr auch Joey: In ihr wimmelte es nur so von Stimmen, hellem Lachen, Bildern, für die sie keine Worte hatte, und vor allem anderen Musik… die wilde, schelmische, beängstigende, unendlich tröstliche Musik Shei’rahs. Ko hatte recht, es ist ihre Musik. Sie sind es selbst.
Sie glitt von Touriqs Rücken, als dieser endlich stehenblieb, und lehnte sich an ihn, keuchend und kichernd. »Das war wundervoll«, brachte sie hervor. »Das war wundervoll.«
»Ich kann noch viel schneller laufen«, prahlte Touriq naiv. »Einmal bin ich einem ganzen Schwarm Perytone davongelaufen, als ich noch ganz klein war.«
Ängstlich blickte Joey in den Himmel auf. Touriq, der ihrem Blick folgte, sagte: »Die kommen nie, wenn wir alle so zusammen sind. Nur wenn du jung und ganz allein bist. Jedenfalls habe ich keine Angst vor denen.«
»Na, ich schon«, sagte Joey. »Ich fürchte mich vor so ziemlich allem hier, außer vor Ko und vor euch. Vor diesem zweiköpfigen Sonstwas, und diesen Dingern in den Bäumen, die mich fast geholt hätten, und diesem Jalla-Irgendwas im Wasser…«
Touriq lachte. »Die Bach-Jalla? Wie kannst du dich vor einer albernen kleinen Bach-Jalla fürchten?« Rasch sah er sich um, stieß sie mit der Schulter an und sagte: »Komm, ich zeig’ dir was.«
Die anderen jungen Einhörner waren wieder zum Grasen oder zu ihren meist spielerisch mit den Hörnern ausgetragenen Zweikämpfen zurückgekehrt, die sie schon beobachtet hatte. Andere lagen in der Sonne, mit offenen Augen – und die meisten zeigten wie Touriq die ersten Anzeichen aufkommender Blindheit –, regungslos, blieben absolut friedlich, bis selbst die Musik, ihr Lebensmotiv, schwieg. Joey wandte sich um und wollte Touriq folgen, als ihr plötzlich bewußt wurde, daß eines der Einhörner sie beobachtete.
Es war weiß, so weiß wie Gänseblümchen, und sein Horn blitzte wie Feuer in der Sonne, doch es waren seine ungewöhnlichen Augen, die Joey an ihrem Platz festbannten. Sie waren klar, ungetrübt, und es waren Indigos Augen. Sie tat einen Schritt
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