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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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Steine in den Höhlen.
    »Ja«, sagte John Papas. Seine Stimme klang gedämpft und ausdruckslos, aber er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ja, ich weiß, Josephine Angelina Rivera. Aber das sind die Momente im Leben, in denen man es herausfinden muß. Das kannst du mir glauben. Das weiß ich genau.«
    Einen Moment später fügte er zaghaft hinzu: »Dieser Junge, dieser Indigo, es könnte sein, daß du ihn da drüben triffst.« Joey blickte zu ihm auf. John Papas sagte: »Du könntest ihm sagen, daß Papas das Geld aufbringen wird. Ich brauch’ nur etwas mehr Zeit. Denkst du daran?«
    »Ich werde daran denken«, sagte Joey. Sie entwand sich dem Griff seiner Hand. »Ich werde daran denken, daß Sie sein Horn wollen und Ihnen alles andere ganz egal ist. Er, die Musik und ich auch. Ja, Sie sollten sich was schämen, Mr. Papas.« Sie arbeitete den Rest des Nachmittags, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und John Papas blieb in seinem kleinen Büro, bis sie ging.
    Doch schon am nächsten Abend, wieder einmal war Halbmond, glänzte der helle, silbrige Schimmer – trotz aller Ängste Joeys, die Grenze könnte sich so weit verschoben haben, daß sie diese niemals mehr finden würde – genau dort, wo sie wieder aus Shei’rah herausgetaucht war, gleich hinter dem Briefkasten, an der Ecke Alomar und Valencia. Lange stand sie regungslos, während Autos und Busse vorüberfuhren und Kinder in ihrem Alter auf glitzernden Neon-Rollerblades vorüberschössen und sie mit milder Verachtung musterten. Dann machte sie zwei Schritte nach vorn und lachte und weinte in Kos stinkenden Armen unter der Senfblumensonne Shei’rahs.
    »Wieso wußtest du?« wollte sie wissen, als sie wieder sprechen konnte. »Woher konntest du ahnen, daß ich genau hier und in diesem Augenblick herüberkommen würde? Touriq, das kitzelt. . .«, denn ein Horn hatte ihr sanft über die Wange gestreichelt, und warmer Atem bewegte die Luft in ihrem Nacken. Der Satyr strahlte und putzte seinen Bart mit beiden schmuddeligen Händen.
    »Ich habe es hier gespürt, Tochter«, erklärte er stolz. »Wir wissen Sachen mit unseren Bärten, wir Tirujai. Immer, wenn wir Zweifel haben, unsicher sind, sagt einer von uns: ›Denk dran, folge deinem Bart‹ und das tun wir dann, und es führt uns immer dorthin, wo wir sein sollten.« Noch einmal umarmte er sie und trat zur Seite, damit Joey auf den Rücken des wartenden Einhornfohlens klettern konnte. Touriq stieß einen gellenden Schrei aus, der sich mit dem Schlachtruf von Prinzessin Lisha messen konnte, und bäumte sich mit derart wilder Freude auf, daß Joey fast wieder zu Boden glitt. Ko fing sie auf und rief: »Achte auf meine Tochter, Ältester! So heißt du den Gast des Lord Sinti willkommen, die außerweltliche Schwester einer Bach-Jalla? Ich werde sie selbst tragen, wenn du sie so behandelst.«
    Kleinlaut ließ Touriq den Kopf hängen, wartete, bis Joey sich auf seinem Rücken aufgerichtet hatte, und die anmutige Besonnenheit, mit der er nun voranschritt, war so gespielt, daß Ko vor Lachen laut herausplatzte, während er neben ihm lief, in die Luft sprang und seine Hufe aneinanderklappern ließ. Und so kam Joey wieder nach Shei’rah, vergrub ihr Gesicht am gewölbten Nacken eines tänzelnden Einhorns und lauschte dem tiefen, warmen, heiseren Lachen eines Wesens, das halb Mensch, halb Ziege war und ihr zurief: »Willkommen daheim, Tochter! Willkommen daheim!« Und die Musik Shei’rahs hüpfte und frohlockte mit ihm.
    Sie fand niemals heraus – weder jetzt noch irgendwann später, als sie wiederkam-, ob während ihrer Abwesenheit Wochen, Monate oder sogar Jahre in Shei’rah vergangen waren. Eine vage Ahnung davon bekam sie erst, als der Lord Sinti ihr erklärte: »Nur weil Shei’rah eure Welt berührt, heißt das nicht, daß sich beide mit derselben Geschwindigkeit durchs Universum bewegen. Stell dir vor, du reitest auf deinem Freund Touriq, und ich bin kein Ältester, sondern ein Kadrush«, womit er eine riesige, knochenlose, vierfüßige Nacktschnecke aus den Bergen Shei’rahs meinte. »Du könntest die Welt dreißigmal umrunden, bevor ich die Entfernung zwischen uns bewältigt hätte. Und wenn du dann von Touriqs Rücken auf meinen springen würdest… na, wie solltest du das Gefühl haben, du hättest überhaupt eine Entfernung hinter dich gebracht? So verhält es sich mit Shei’rah und deinem Woodmont in Kalifornien.« Und mit dieser Erklärung mußte sie sich begnügen.
    Bei diesem zweiten Besuch waren

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