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Die Sonate des Einhorns

Die Sonate des Einhorns

Titel: Die Sonate des Einhorns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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die blauen Blätter abgefallen – wenn auch nicht die roten Blätter des Abendrotwaldes –, und die Nächte waren so kühl, daß sie Moosnester baute, in denen sie schlafen konnte, ganz so wie die Tirujai es taten. Es gab also tatsächlich Jahreszeiten in Shei’rah. Touriq und seine Freunde waren in ihren Augen unverändert (sie wirkten vielleicht etwas größer, die weichen, jungen Mähnen etwas voller), doch die Shendi, die Miniaturdrachen-Familie, schienen auf beunruhigende Weise geschrumpft zu sein, bis Joey merkte, daß es sich um neue Baby-Drachen handelte, kaum einen Monat aus dem Ei. Die Perytone andererseits wirkten merkwürdigerweise größer, selbst aus argwöhnischer Distanz, und es war ihnen, wie bei Hirschen üblich, ein Winterfell gewachsen. Die furchterregenden, zweiköpfigen Jakhaos waren nicht mehr da, verschliefen die kalte Zeit in den alten Höhlen ihrer Geburt, wie Ko ihr erzählte. Joey bemerkte einen grauen Fleck in den schmierigen Locken auf seiner Brust, von dem sie hätte schwören können, daß sie ihn noch nie gesehen hatte. Der Satyr beharrte darauf, daß es sich um nichts anderes als guten Dreck aus Shei’rah handelte, wobei sie es dann auch beließen.
    Was die Bach-Jalla anging, so blieb diese so unwandelbar wie der Strom ihres Baches… oder vielmehr war dieser noch kälter als in Joeys Erinnerung, während die Bach-Jalla so warm war wie das eben erwachte Kind, dem sie glich. Als ihr klar wurde, daß Joey nicht die Absicht hatte, in dieser Jahreszeit auch nur einen Zeh ins Wasser zu halten, stürmte ihre Shei’rah-Schwester das Ufer hinauf und sprang ihr tropfend in die Arme, lachte und küßte sie, während sie über den Strand taumelten. »Wie lange du fort warst! Ich dachte schon, du müßtest inzwischen eine alte Frau sein!« Joey, die so naß war, daß sie ebensogut hätte schwimmen gehen können, begann, ihr die Sache mit dem Zeitunterschied zu erklären, doch die Bach-Jalla langweilte sich schnell und wollte lieber Geschichten über Autobahnen und Fischstäbchen hören. Von letzteren hatte sie eine höchst ungewöhnliche Vorstellung.
    Dieser zweite Besuch verging erschreckend schnell für eine, die sich gar nicht hatte vorstellen können, das sie den Weg in dieses Land noch einmal finden würde. Joey teilte ihre Zeit, so gut es ging, zwischen den Wettläufen und ihren Wanderungen, dann wieder den Wettrennen mit Touriq und den anderen jungen Einhörnern auf, lernte die Geschichten und Heilmittel und die alten, alten Geheimnisse der Tirujai, ertrug das eiskalte Bergwasser im Strom der Bach-Jalla, ihres wilden Lachens und ihrer wilden Zärtlichkeit wegen. Sie bestand darauf zu helfen, als Joeys wenige Kleider gewaschen werden mußten, mit denen sie dann flußaufwärts und –abwärts stürmte, sie wie eroberte Flaggen schwenkte und sie heftig auf Steine schlug, um sie zu säubern. Von Kleidern und Schmutz war die Bach-Jalla gleichermaßen fasziniert.
    Den großen Ältesten begegnete sie nicht. Touriq – der sehr stolz daraufwar, das erste Mal fort von seiner Mutter Fireez zu sein – erklärte, daß sich die ältesten Einhörner während dieser Zeit mit dem Lord Sinti in einen Teil des Abendrotwaldes zurückzogen, den nicht einmal die Tirujai kannten. Prompt war Joey leidenschaftlich entschlossen, diesen zu finden, und streunte stundenlang allein durch den Abendrotwald, lauschte dem leisen Wispern der roten Blätter und dem Knurren seltsamer Wesen, die sich den Winter über in ihrem Bau verkrochen hatten. Bei diesen Gelegenheiten hörte sie die Musik Shei’rahs sehr deutlich, so nah oder fern diese auch sein mochte.
    Einmal ging sie in der Abenddämmerung um einen Busch herum und stand überrascht Auge in Auge mit einem Vogelpaar, in der Farbe der Eichelhäher, nur größer, mit langen Beinen wie Watvögel und dem kecken Federbusch der kalifornischen Wachtel. Ihr Gefieder schien von innen heraus zu leuchten, tauchte sie über und über in einen Sternenblauen Glanz, als die beiden in aller Seelenruhe an ihr vorüberschritten. Ko erklärte ihr später, daß man sie Ercines nannte und daß ihre phosphoreszierende Spur ihr einen sicheren Weg zeigen würde, falls sie sich einmal verlaufen sollte. Doch fürchtete sie nie, sich zu verirren: Im Abendrotwald verirrte man sich nicht.
    Die Shendi zeigten sich zu dieser Jahreszeit nur selten, die Criyaqui überhaupt nicht, und die Perytone schienen woanders zu jagen, vorerst zumindest. Einen ganzen Nachmittag brachte sie damit zu, sich

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