Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra (German Edition)
sähe er vielleicht so glatt und beeindruckend aus wie Corvina. Wahrscheinlich aber eher nicht.
»Ja, es stimmt, ich habe auch andere Bücher im Angebot«, sagt Penumbra schließlich. »Wie schon seit Jahrzehnten. Wie auch schon unser Lehrer vor mir. Ich bin sicher, du erinnerst dich. Du weißt, dass die Hälfte meiner Novizen zu uns kommt, weil –«
»Weil deine Anforderungen so niedrig sind«, fährt Corvina dazwischen. Sein Blick streift Kat, Neel und mich. »Was nützen uns Ungebundene, die ihre Arbeit nicht ernst nehmen? Sie stärken uns nicht, sie schwächen uns. Sie gefährden das Ganze.«
Kat runzelt die Stirn. Neels Bizepse pulsieren.
»Du lebst schon zu lange in der Wildnis, Ajax. Komm zu uns zurück. Verbring die Zeit, die dir noch bleibt, mit deinen Brüdern und Schwestern.«
Penumbras Gesicht ist jetzt zu einer Grimasse verzogen. »Es gibt Novizen in San Francisco und Ungebundene. Viele.« Seine Stimme klingt plötzlich heiser, und unsere Blicke kreuzen sich. Ich sehe, wie Schmerz in seinen Augen aufflackert, und ich weiß, dass er an Tyndall denkt, an Lapin und all die anderen, an mich und auch an Oliver Grone.
»Novizen gibt es überall«, sagt Corvina mit einer wegwer fenden Handbewegung. »Die Ungebundenen werden dir hier her folgen. Oder auch nicht. Aber Ajax, lass es mich in aller Deutlichkeit sagen. Die Unterstützung deines Ladens durch die Festina Lente Company ist beendet. Von uns bekommst du nichts mehr.«
Es ist mucksmäuschenstill im Lesesaal: kein Rascheln, kein Klappern. Alle Schwarzroben starren in ihre Bücher und spitzen die Ohren.
»Du hast die Wahl, mein Freund«, sagt der Erste Leser sanft, »und ich versuche dir zu helfen, das klar zu sehen. Wir sind nicht mehr die Jüngsten, Ajax. Und wenn du dich unserer Aufgabe erneut widmest, bleibt dir immer noch Zeit, Großes zu leisten. Wenn nicht« – seine Augen wandern nach oben – »nun ja, dann kannst du die Zeit, die dir bleibt, auch da draußen vertändeln.« Er blickt Penumbra scharf an – es ist ein besorgter Blick, aber von der echt herablassenden Sorte – und wiederholt, ein letztes Mal: »Komm zu uns zurück.«
Dann macht er abrupt kehrt und geht mit großen Schritten und wehender Robe zu der breiten Treppe zurück. Lärmendes Knarren und Scharren setzt ein, als all seine Schutzbefohlenen sofort wieder eifriges Lernen vortäuschen.
Als wir dem Lesesaal entflohen sind, fragt Deckle noch einmal, ob Penumbra Zeit für einen Kaffee hat.
»Wir werden wohl etwas Kräftigeres brauchen, mein Junge«, sagt Penumbra und bemüht sich zu lächeln, was ihm fast – aber nicht ganz – gelingt. »Ich würde mich sehr gern heute Abend mit dir unterhalten … Wo?« Penumbra dreht sich zu mir um und macht eine Frage daraus.
»Im Northbridge«, mischt Neel sich ein. »Westliche Neun undzwanzigste Straße, Ecke Broadway.« Dort sind wir untergebracht, weil Neel den Besitzer kennt.
Wir geben unsere Roben ab, nehmen unsere Telefone an uns und waten durch die graugrünen Untiefen der Festina Lente Company. Während meine Turnschuhe die gesprenkelte Büroauslegeware abnutzen, kommt mir der Gedanke, dass wir uns direkt über dem Lesesaal befinden müssen – im Prinzip auf seiner Decke herumlaufen. Ich bin mir nicht sicher, wie tief er unter uns liegt. Fünf Meter? Zehn?
Penumbras eigener Codex Vitae ist da unten. Ich habe ihn nicht gesehen – er stand irgendwo in diesen Regalen, ein Buchrücken unter vielen –, aber er beschäftigt mich mehr als M ANVTIVS in seinem schwarzen Einband. Wir müssen uns unter dem Eindruck jenes düsteren Ultimatums hastig verdrücken, und ich befürchte, dass Penumbra vielleicht etwas Wertvolles zurücklässt.
Einer der Büroräume entlang der Wand ist größer als die restlichen und die dazugehörige Milchglastür weiter von den anderen entfernt. Jetzt kann ich das Namensschild deutlich erkennen:
MARCUS CORVINA / LEITENDER GESCHÄFTSFÜHRER
Also hat auch Corvina einen Vornamen.
Ein Schatten bewegt sich hinter dem Milchglas, und mir wird klar, dass er dort drin ist. Was macht er da? Verhandelt er am Telefon mit einem Verleger, verlangt er horrende Summen für die Nutzung der großartigen alten Gerritszoon? Ver petzt er gerade die Namen und Adressen irgendwelcher lästiger E-Book-Piraten? Macht er eine wunderbare Buchhandlung dicht, spricht er mit seiner Bank und kündigt einen gewissen Dauerauftrag?
Das ist nicht nur eine Sekte. Es ist auch ein Konzern, und Corvina ist der Chef, über
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