Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra (German Edition)
Stuhl nieder. Auch wir setzen uns und achten darauf, dass sich unsere Roben nicht verfangen. Seine Stimme ist sehr leise und unter dem Stimmengewirr kaum hörbar: »Ihr dürft ihn niemandem gegenüber erwähnen oder je seinen Standort preisgeben.«
Wir nicken alle gleichzeitig. Neel flüstert: »Das ist der Wahnsinn.«
»Oh, nicht der Raum ist das Erstaunliche«, sagt Penumbra. »Er ist alt, wohl wahr. Aber jedes Kellergewölbe gleicht dem anderen: eine riesige Kammer unter der Erde, kalt und trocken. Nichts Besonderes.« Er macht eine Pause. »Der Inhalt dieses Raums ist das Besondere.«
Wir sind erst drei Minuten in diesem von Büchern gesäum ten Keller, und ich habe schon vergessen, dass der Rest der Welt noch existiert. Ich wette, alles ist so angelegt, dass man hier einen Atomkrieg überstehen kann. Hinter einer dieser Türen versteckt sich garantiert ein Vorratslager mit Bohnenkonserven.
»Es gibt hier zwei Schätze«, fährt Penumbra fort. »Der eine ist eine Sammlung vieler Bücher, der andere ein einziges Werk.« Er hebt eine knochige Hand und lässt sie auf dem schwarz gebundenen Exemplar ruhen, das genau wie alle anderen an unseren Tisch gekettet ist. Auf dem Einband steht in großen silbernen Lettern: M ANVTIVS .
»Das ist das Werk«, sagt Penumbra. »Es ist der Codex Vitae des Aldus Manutius. Man findet ihn nirgends außerhalb dieser Bibliothek.«
Moment: »Nicht einmal in Ihrem Laden?«
Penumbra schüttelt den Kopf. »Kein Novize liest dieses Buch. Das tun nur die Vollmitglieder unserer Gemeinschaft – die Gebundenen und die Ungebundenen. Es gibt nicht viele von uns, und wir lesen Manutius nur an diesem Ort.«
Das ist es also, was wir ringsum sehen – intensives Studium. Obgleich mir aufgefallen ist, dass ein paar von den Schwarzroben über ihre Nasenspitzen in unsere Richtung linsen. Vielleicht doch nicht so intensiv.
Penumbra dreht sich auf seinem Stuhl herum und zeigt auf die Wandregale. »Und dort ist der andere Schatz. Jedes Mitglied der Gemeinschaft tritt in die Fußstapfen des Gründers und verfasst einen eigenen Codex Vitae oder ein Buch des Lebens. Das ist die Aufgabe der Ungebundenen. Fedorov zum Beispiel, der, wie du weißt« – er nickt mir zu – »einer von ihnen ist. Wenn er fertig ist, wird alles, was er gelernt hat, sein gesamtes Wissen, in ein Buch wie diese dort eingeflossen sein.«
Ich denke an Fedorov und seinen schneeweißen Bart. Ja, ich schätze, er hat so manches gelernt.
»Wir verwenden unser Logbuch«, sagt er zu mir, »um sicherzugehen, dass Fedorov sich sein Wissen auch verdient hat.« Penumbra zieht eine Augenbraue hoch. »Wir müssen sichergehen, dass er den Inhalt all dessen, was er sich erarbeitet hat, versteht.«
Genau. Sie müssen sichergehen, dass er nicht einfach bloß einen Haufen Bücher auf einen Scanner gelegt hat.
»Sobald Fedorovs Codex Vitae von mir bestätigt und dann vom Ersten Leser angenommen ist, nimmt er den Status eines Gebundenen an. Und dann wird er schließlich das ultimative Opfer bringen.«
Auweia: ein dunkles Ritual auf dem Podium des Wahrhaft Bösen. Ich hab’s geahnt. Ich mag Fedorov.
»Sein Buch wird verschlüsselt, kopiert und ins Regal gestellt«, sagt Penumbra nüchtern. »Niemand bekommt es vor Fedorovs Tod zu lesen.«
»Krass«, zischt Neel. Ich werfe ihm einen warnenden Blick zu, aber Penumbra lächelt und hebt beschwichtigend die Hand.
»Wir bringen dieses Opfer aus tiefster Überzeugung«, erklärt er. »Das ist mein voller Ernst. Wenn wir Manutius’ Codex Vitae entschlüsseln, wird jedes Mitglied unserer Gemeinschaft, das seinen Fußspuren folgte – wer sein eigenes Buch des Lebens geschaffen und es hierher zur Aufbewahrung gegeben hat –, wieder zu neuem Leben erwachen.«
Ich bemühe mich, den skeptischen Ausdruck zu unterdrücken, der sich mit aller Macht auf meinem Gesicht ausbreiten will.
»Was«, sagt Neel, »wie Zombies?« Er sagt es ein bisschen zu laut, und einige Schwarzroben schauen zu uns herüber.
Penumbra schüttelt den Kopf. »Wie Unsterblichkeit aussieht, ist ein Geheimnis«, sagt er so leise, dass wir uns vorbeugen müssen, um ihn zu verstehen. »Aber alles, was ich über das Schreiben und Lesen weiß, sagt mir, dass es so sein muss. Ich habe es zwischen diesen Regalen gespürt und auch in anderen.«
An die Sache mit der Unsterblichkeit glaube ich nicht, aber ich kenne das Gefühl, von dem Penumbra spricht. Wenn man an Bibliotheksregalen entlanggeht und mit dem Finger über die
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