Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra (German Edition)
Buchrücken streicht – dann spürt man unwillkürlich die Gegenwart schlummernder Seelen. Es ist nur ein Gefühl, keine Tatsache, aber vergessen Sie nicht (ich sag’s noch mal): Leute glauben an noch viel seltsamere Dinge.
»Aber wieso können Sie Manutius’ Buch nicht decodieren?«, fragt Kat. Das ist ihre Spielwiese: »Was ist mit dem Schlüssel passiert?«
»Tja«, sagt Penumbra. »Wenn wir das wüssten.« Er seufzt. Dann: »Gerritszoon war auf seine Weise genauso bemerkenswert wie Manutius. Er zog es vor, den Schlüssel nicht weiterzugeben. Seit fünfhundert Jahren … diskutieren wir nun über seine Entscheidung.«
So, wie er das sagt, habe ich den Verdacht, dass in diesen Diskussionen gelegentlich ein Revolver oder ein Dolch eine Rolle gespielt haben könnte.
»Ohne den Schlüssel haben wir jede erdenkliche Methode ausprobiert, um Manutius’ Codex Vitae zu dechiffrieren. Wir haben es mit Geometrie versucht. Wir haben nach verborgenen Mustern gesucht. Das ist der Ursprung des Rätsels unseres Gründers.«
Das Gesicht in der Visualisierung – natürlich. Wieder be fällt mich diese vage Erschütterung. Das war also Aldus Manutius, der mir aus meinem MacBook entgegenstarrte.
»Wir haben Algebra angewandt, Logik, Linguistik, Krypto grafie … große Mathematiker zählten zu unserer Gemein schaft«, sagt Penumbra. »Männer und Frauen, die in der Welt da oben Preise gewonnen haben.«
Kat hat sich gebannt vorgebeugt und liegt schon halb auf dem Tisch. So etwas ist einfach unwiderstehlich für sie: einen Code zu knacken und den Schlüssel zur Unsterblichkeit zu finden, alles in einem. Ihre Begeisterung ist ansteckend und macht mich ein bisschen stolz: Ich bin derjenige, der sie hergebracht hat. Google kann sich heute hinten anstellen. Hier unten, beim Ungebrochenen Buchrücken, spielt die Musik.
»Was ihr verstehen solltet, liebe Freunde«, sagt Penumbra, »ist, dass diese Gemeinschaft seit ihrer Gründung vor fünfhundert Jahren auf fast immer gleiche Weise operierte.« Er zeigt auf die betriebsamen Schwarzroben: »Wir benutzen Kreide und Schiefertafeln, Tinte und Papier.« Hier verändert sich sein Ton. »Corvina ist der Überzeugung, dass wir uns strikt an diese Techniken halten müssen. Er meint, wenn wir auch nur das Geringste ändern, verwirken wir die Chance auf unseren Preis.«
»Und Sie«, sage ich – Sie, der Mann mit dem MacPlus –, »sind anderer Ansicht.«
Statt zu antworten, wendet sich Penumbra an Kat, und seine Stimme ist jetzt wirklich nur noch ein Hauch: »Das führt mich zu meinem Vorschlag. Wenn mich nicht alles täuscht, liebes Kind, hat dein Unternehmen eine große Zahl von Büchern« – er hält inne, sucht nach Worten – »in digitale Bücherregale eingeräumt.«
Sie nickt und antwortet flüsternd: »Einundsechzig Prozent aller Werke, die je gedruckt wurden.«
»Aber den Codex Vitae des Gründers habt ihr nicht«, sagt Penumbra. »Niemand hat ihn.« Wieder eine Pause. »Vielleicht solltet ihr ihn haben.«
Ich kapiere blitzartig: Penumbra schlägt einen bibliografischen Datenklau vor.
Eine der Schwarzroben schlurft mit einem dicken grünen Buch aus den Regalen an unserem Tisch vorbei. Es ist eine hochgewachsene, drahtige Frau um die vierzig mit müden Augen und kurz geschnittenem schwarzem Haar. Unter ihrer Robe kann ich ein buntes Blumenmuster erkennen. Wir verstummen und warten, bis sie vorbeigegangen ist.
»Ich glaube, wir müssen mit der Tradition brechen«, fährt Penumbra fort. »Ich bin alt, und wenn die Möglichkeit besteht, dann möchte ich das Werk gern vollendet sehen, bevor alles, was von mir bleibt, ein Buch auf einem dieser Regale ist.«
Noch ein Blitz: Penumbra ist einer der Gebundenen, also müsste sein eigener Codex Vitae hier sein, in dieser Höhle. Mir wird leicht schwummerig bei dem Gedanken. Was steht da drin? Welche Geschichte erzählt er?
Kats Augen leuchten. »Wir können das scannen«, sagt sie und tätschelt das Buch auf dem Tisch. »Und wenn es einen Code gibt, können wir ihn knacken. Wir haben Maschinen, die so leistungsstark sind – Sie haben keine Vorstellung.«
Ein Raunen geht durch den Lesesaal, und eine kleine Welle der Aufmerksamkeit erfasst reihum die Schwarzroben. Alle richten sich auf, warnen einander und rufen sich gegenseitig flüsternd und zischend zur Ordnung.
Am anderen Ende der Kammer, wo die breiten Stufen von oben enden, ist die große Gestalt eines Mannes aufgetaucht. Seine Robe unterscheidet sich von den
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