Die sonderbare Buchhandlung des Mr. Penumbra (German Edition)
früh am Morgen, aber ich brauche jetzt einen Drink.
Dann erzähle ich ihnen, was Corvina über Penumbra gesagt hat.
Mein ehemaliger Arbeitgeber winkt mit einer knochigen Hand ab: »Was er gesagt hat, spielt keine Rolle. Jetzt nicht mehr. Wichtig ist, was auf diesen Seiten steht. Ich kann kaum glauben, dass es wirklich funktioniert hat. Ich kann kaum glauben, dass wir den Codex Vitae des Aldus Manutius in Händen halten!«
Kat nickt und grinst. »Fangen wir gleich an«, sagt sie. »Wir können die OCR -Zeichenerkennung drüberlaufen lassen und sichergehen, dass alles funktioniert.«
Sie holt ihr MacBook heraus und erweckt es zum Leben. Ich stöpsle die kleine Festplatte ein und kopiere deren Inhalt – zumindest das meiste davon. Ich ziehe M ANVTIVS auf Kats Laptop rüber, aber P ENVMBRA behalte ich für mich. Ich werde weder Penumbra noch irgendeinem anderen Menschen erzählen, dass ich sein Buch gescannt habe. Das kann warten – wenn ich Glück habe, auf ewig. Manutius’ Codex Vitae ist ein Projekt. Penumbras nur eine Rückversicherung.
Ich esse meine Haferflocken und schaue zu, wie der Ladebalken wächst. Mit einem leichten Pling endet der Kopierprozess und dann fliegen Kats Finger über die Tastatur. »Schön«, sagt sie. »Das Buch ist unterwegs. Um den eigentlichen Code zu knacken, werden wir uns in Mountain View helfen lassen müssen … aber wir können wenigstens schon mal Hadoop lostreten und die Seiten in reinen Text umwandeln. Bereit?«
Ich lächle. Das ist aufregend. Kats Wangen glühen; sie befindet sich im Modus Digitale Kaiserin. Außerdem steigt mir vielleicht der Blue Screen of Death in den Kopf. Ich hebe mein blinkendes Glas: »Lang lebe Aldus Manutius!«
Kat haut einen Finger in die Tastatur. Bilder von Buchsei ten beginnen, zu fernen Computern zu fliegen, wo sie zu Sym bolreihen werden, die kopiert und schon bald decodiert wer den können. Keine Ketten können sie mehr daran hindern.
Während sich Kats Computer an die Arbeit macht, erkundige ich mich bei Penumbra nach dem verbrannten Buch mit der Aufschrift M OFFAT . Neel hört mit zu.
»War er das?«, frage ich.
»Ja, natürlich«, sagt Penumbra. »Clark Moffat. Er hat seine Arbeit hier in New York gemacht. Aber vorher, mein Junge – war er Kunde bei uns.« Er grinst und zwinkert. Er glaubt, mich damit beeindrucken zu können, und er hat recht. Geht’s um Moffat, bin ich der totale Retrofan.
»Aber was du da in der Hand hattest, war kein Codex Vitae «, sagt Penumbra und schüttelt den Kopf. »Nicht mehr.«
Natürlich nicht. Das Buch bestand ja aus Asche. »Was ist passiert?«
»Er hat es bekanntlich veröffentlicht.«
Augenblick, das verstehe ich jetzt nicht: »Die einzigen Bücher, die Moffat je veröffentlicht hat, waren Die Drachenlied-Chroniken. «
»Ja.« Penumbra nickt. »Sein Codex Vitae war der dritte und letzte Band der Saga, die er begonnen hatte, bevor er sich uns anschloss. Es war ein ungeheures Glaubensbekenntnis, das Werk zu vollenden und es dann den Regalen der Gemeinschaft zu übereignen. Er hat es beim Ersten Leser eingereicht – das war Nivean, vor Corvina –, und es wurde angenommen.«
»Aber dann hat er es wieder zurückgezogen.«
Penumbra nickt. »Er konnte das Opfer nicht bringen. Er konnte nicht ertragen, dass sein letzter Band nicht veröffentlich würde.«
Also durfte Moffat nicht mehr Mitglied der Gemeinschaft des Ungebrochenen Buchrückens bleiben, weil Neel und mich und unzählige andere nerdige Sechstklässler der dritte und letzte Band der Drachenlied-Chroniken komplett umgehauen hat.
»Mann«, sagt Neel. »Das erklärt so manches.«
Er hat recht. Der dritte Band haut Schüler an der Junior High ja gerade deswegen so um, weil er eine völlig unerwartete Wendung nimmt. Der Ton verändert sich. Die Protagonisten wandeln sich. Der Plot entgleist und folgt plötzlich irgendeiner undurchschaubaren Logik. Viele haben vermutet, dass Clark Moffat angefangen hatte, psychedelische Drogen einzuwerfen, aber die Wahrheit ist sogar noch merkwürdiger.
Penumbra schaut kritisch. »Meiner Meinung nach hat Clark einen tragischen Fehler begangen.«
Fehler oder nicht, auf jeden Fall eine Entscheidung mit gewaltigen Auswirkungen. Wären die Drachenlied-Chroniken nie fertiggestellt worden, hätte ich mich nie mit Neel angefreundet. Dann würde er jetzt nicht hier sitzen. Vielleicht würde auch ich nicht hier sitzen. Vielleicht wäre ich gerade mit einem anderen besten Freund, mit dem mich ein wer weiß
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