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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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bekommen.«
    »Sergeant«, murmelte Sterling.
    »Verzeihung?«
    »Lassen Sie den Jungen in Ruhe, Sterling«, sagte der gerade erwachte Lieutenant, der schon wieder am Funkgerät saß. Danach trat Stille ein. Der Meldegänger verschwand in die anbrechende Dunkelheit, schien auf seinem Rückweg über den festgestampften Staub zu schweben.
    Murph zog ein Foto aus seinem Helm und legte es unter die Zeile in seinem Brief, die er gerade las, um sich auf jedes Wort konzentrieren zu können. So machten es alte Männer, die Nachrufe auf verstorbene Freunde lasen, mit Verspätung begriffen, wie knapp das Leben bemessen war, und sich fragten, warum sie dies nicht schon früher geahnt hatten. Ich konnte nicht erkennen, was das Foto zeigte, denn es war inzwischen zu dunkel, aber ich bezweifelte, dass Murph mir das Bild schon einmal gezeigt hatte. Er lehnte sich gegen die Mauer, und die Zweige des Weißdorns, vom leichten Wind bewegt, hingen bis zu ihm hinab. Das Rot der Sonne war zu einem letzten, zögernden rosa Hauch verglüht, der jenseits der Stadt aufschien.
    »Gute Neuigkeiten?«, fragte ich.
    »Auf jeden Fall Neuigkeiten«, sagte er.
    »Und welche?«
    »Meine Freundin geht jetzt zur Uni. Sie meint, es wäre das Beste, wenn … Na, du weißt schon.«
    Das Funkgerät brummte immer noch leise. Die Stimme des Lieutenants legte sich über unser Geflüster, er sagte: »Alles brave Jungs. Sie werden bereit sein, Colonel.«
    »Hat sich jemand dein Mädchen geschnappt?«, fragte ich.
    »Keine Ahnung. Glaube nicht.«
    »Alles klar bei dir?«
    »Ja. Ist wohl auch egal.«
    »Ganz sicher?«
    Zwischen meiner Frage und seiner Antwort herrschte Stille. Ich dachte an Zuhause, erinnerte mich daran, wie die Zikaden zwischen den Zirbelkiefern und Eichen flatterten, die den Teich hinter dem Haus meiner Mutter in Richmond umgaben. Dort brach jetzt der Tag an. Die Entfernung zwischen unserem Zuhause, was immer es dem Einzelnen bedeuten mochte, und unserer improvisierten Stellung schrumpfte, und ich hatte den Teich vor Augen und musste lächeln, erinnerte mich an den späten November. Am Ufer hatten Kiefernnadeln gelegen, von der Wärme Virginias gebräunt, in verstreuten Haufen wie vergessene Badetücher. Ich hatte das Haus bei Tagesanbruch durch die Hintertür verlassen, über die Treppe mit den verzogenen Stufen. Die Sonne hing noch hinter den hohen Bäumen auf den Hügeln oberhalb der Senke, in der unser Haus stand. Das Licht, fahlgelb, aber kraftvoll, schien aus der Erde zu dringen, ganz im Geheimen und auf einer höheren Lage, die ich mir als Kind als gemähte Wiese mit vielen Disteln vorstellte, und diese Disteln leuchteten, bis sie der Tag seiner Gegenwart versichert hatte, und meine Mutter, die in aller Herrgottsfrühe auf der Veranda saß, schien mich nicht zu bemerken, als ich vorbeiging, mit Schuhen, die im roten und orangefarbenen Laub herrlich raschelten. Nachdem ich mich für die Army gemeldet hatte, war ich die ganze Nacht auf Achse gewesen, hatte versucht, mich durch das von meinem Bruder gebaute Tor im Lattenzaun zu stehlen, und meine Mutter hatte gerufen, leise und ohne zuvor genug Luft geholt zu haben, und deshalb hörte ich sie nicht gleich, zumal die Ochsenfrösche ihre letzten Lieder quakten. Ein leichter Wind vertrieb die Vögel, die sich allabendlich hinten am Ufer, zwischen Weidenbäumen und Hartriegel, auf der guten, braunen Erde sammelten. Sie wühlten das Wasser im Flug mit den Spitzen ihrer ausgebreiteten Flügel auf, und die Lichter des Hauses und der wenigen Sterne, zerstreut wie Salzbröckchen, schienen zu vergehen, und die Wellen erbebten wie gezupfte Saiten. Aber ich war nicht dort. All das war eine Ewigkeit her. Damals war ich im Dunkeln unter dem Blätterdach der Bäume hervorgetreten, und sie hatte in mütterlicher Vorahnung gesagt: »Mein Gott, John, was hast du getan?« Und ich hatte ihr gebeichtet, mich bei der Army gemeldet zu haben. Sie wusste, was das hieß. Und bald darauf war ich ausgezogen. Mir schien, als hätte ich zwischen jenem Tag und diesem Moment, da ich in der Nähe von Al Tafar vor einer Mauer hockte, unfähig, einem Freund, der bald den Tod finden sollte, Mut zuzusprechen, kein Leben gehabt. Murph hatte recht. Es war egal.
    Nach langem Schweigen sagte er: »Ist alles so verdammt komisch.« Der zusammengefaltete Brief lag in seinem Schoß, und er legte den Kopf in den Nacken, sah zum Himmel auf. Er stellte eine sentimentale, aber wunderbare Verbindung her – sein Gesicht, halb verborgen

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