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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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entsprechenden Kästchen eingetragen. Sein Name: Murphy, Daniel; seine Sozialversicherungsnummer; sein Rang; seine Einheit. Es folgten weitere Kästchen mit Angaben, die man im Notfall rasch ankreuzen konnte:
Im Gefecht gefallen
;
Im Gefecht vermisst
:
Im Gefecht verwundet
(entweder leicht oder schwer). Eines für
In Gefangenschaft
, eines für
In Haft
und eines für
An Verwundungen gestorben
. Es war Platz für Angaben von Zeugen, die Unterschrift des befehlshabenden Offiziers oder des Sanitätspersonals. Murph hatte das Kästchen für
Leiche geborgen
angekreuzt. »Nur für den Fall«, sagte er, als er meinen Blick bemerkte. Beide hatten wir unsere Karte schon unterschrieben.
    Murph faltete Karte und Foto zusammen und schob beides zurück in die Helminnentasche. Ich schnitt das Päckchen auf, das mir ein ehemaliger Schulkamerad geschickt hatte, und fand eine Flasche Gold Label darin. Ich schwang sie hin und her, sagte: »Schau mal, was wir da haben.« Murph lächelte, schob den Helm weg, rutschte an der Wand näher an mich heran. Ich hielt ihm die Flasche hin, doch er winkte ab.
    »Ich denke, die Ehre gebührt Ihnen, Sir.«
    Wir lachten. Ich trank einen tiefen Schluck Whiskey, der in Nase, Kehle und Magen brannte. Wir lachten so sehr, dass ich eine Hand auf den Mund legen musste. Murph nahm die Flasche und stürzte auch einen tiefen Schluck hinunter. Für eine Weile vergaßen wir unsere missliche Lage, waren einfach zwei Freunde, die, unter einem Baum an eine Mauer gelehnt, einen tranken. Wir unterdrückten unser Lachen, damit man uns nicht ertappte. Murph kämpfte so sehr dagegen an, dass er am ganzen Körper bebte, die Handgranaten klirrend gegeneinanderstießen und die ganze Kampfausrüstung leise klimperte. Er riss sich zusammen, sagte immer wieder: »Alles klar, alles bestens«, und zog dabei ein aufgesetzt bierernstes Gesicht, bis er sich endlich wieder im Griff hatte. Als er mir die Flasche reichte, seufzte er tief. »Sieh dir das an.«
    Murph zeigte auf die niedrigen Hügel, die die Stadt umgaben. Auf den fernen Hängen waren kleine Feuer aufgeflammt, die, gemeinsam mit den paar Straßenlaternen in der Stadt, einem zerknitterten Flickenteppich aus Sternen glichen. »Wie schön«, flüsterte ich. Ich wusste nicht, ob mich jemand gehört hatte, sah aber, dass auch andere mit dem Finger in das Dunkel zeigten.
    Wir blieben eine Weile so sitzen. Die Nacht wurde kühler, und der Rauch der Feuer roch sauber und klar, durchdrang die Luft wie ein Frühlingshauch zur falschen Jahreszeit. Ich spürte eine leichte Trunkenheit, während wir die Flasche hin und her reichten. Wir stützten das Kinn auf die Arme, die Arme auf die niedrige Lehmziegelmauer, betrachteten die kleinen, von den Bewohnern der Stadt entfachten Feuer, die überall auf den Hügelhängen loderten.
    »Die ganze Stadt scheint sich da versammelt zu haben«, sagte Murph, und ich dachte an die Kolonnen jener Menschen, die Al Tafar vor vier Tagen in Fahrzeugen, auf Reittieren oder zu Fuß verlassen hatten. Sie hatten geduldig darauf gewartet, dass wir abzogen, dass der Feind abzog, waren nach der Schlacht zurückgekehrt und hatten die Patronenhülsen von ihren Dächern gefegt, Eimer mit Wasser gefüllt und das getrocknete, kupferrote Blut von ihren Türschwellen gespült. Während wir die niedrigen Hügel und die im Dunkeln funkelnde Wüste betrachteten, konnten wir ein leises Klagen hören.
    Es war fast unhörbar, aber ich habe es noch heute manchmal im Ohr. Geräusche sind ebenso eigen wie Gerüche. Abends, gleich nach Sonnenuntergang, entfache ich hinten in der Hütte ein Feuer, und nach einer Weile sammelt sich der Rauch draußen zwischen den Kiefern. Der Wind pfeift durch die nahen Klammen, heult über das Bachbett. Und dann kann ich es wieder hören. Schwer zu sagen, ob es die Frauen sind, die, um die Feuer versammelt, laut klagend an ihren Haaren rissen, aber ich habe es vernommen und finde es immer noch falsch, die Ohren davor zu verschließen. Ich nahm den Helm ab, legte mein Gewehr darauf, spitzte die Ohren und horchte auf die Geräuschkulisse der Nacht. Irgendetwas tat sich dort draußen. Ich sah zu Murph, der meinen Blick betrübt erwiderte. Der Lieutenant stellte das Funkgerät weg, nahm den Kopf in beide Hände, rieb den Ausschlag auf seiner Schläfe. Wir hörten eine Weile zu, beobachteten die in der Dunkelheit lodernden Feuer. Meine Brust krampfte sich zusammen. Das Klagen war sowohl wundersam als auch banal, genau wie der auf der Obstwiese

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