Die Sonne war der ganze Himmel
hinter den Zweigen des in der staubigen Erde wurzelnden Weißdorns, schien das schwarze, mit Sternen bestickte Tuch des Himmels mit jenem Himmel zu verbinden, unter dem sein Mädchen saß. Das war natürlich jungenhaft und sehr naiv, aber es passte auch. Die Erinnerung daran, wie Murph unter dem Weißdorn saß, nur wenige Stunden nach dem Gemetzel der vorangegangenen Nacht, betrübt, weil sein Mädchen ihn verlassen hatte, weckt immer noch eine gewisse Zuneigung in mir. Er saß im Dunkeln da. Wir redeten wie Kinder. Wir sahen einander an, als würden wir in trübe Spiegel blicken. Ich erinnere mich gern daran – das war, bevor er sich verlor, bevor er vom Krieg verschlungen wurde, verrenkt durch die Luft flog, vielleicht noch einen letzten Herzschlag spürte, als man seinen gefolterten Körper aus dem Fenster des Minaretts warf.
Ich bat ihn, mir das Foto zu geben. Das Polaroid zeigte Murph und sein Mädchen. Sie standen auf einer ungeteerten Straße. Hinter ihnen stieg die Erde zu einer Bergflanke an, bewachsen mit Buchen und Magnolien, Weißeschen, Ahorn und Tulpenbäumen, und im Licht der Sonnenstrahlen, die durch die Blätterdecke fielen, wirkten die Farben der Blüten klar und leuchtend. Das Mädchen trug ein blaugefärbtes, etwas fadenscheiniges Baumwollkleid, im Licht zeichneten sich ihre Kurven unter dem dünnen Stoff ab. Sie hatte braune, widerspenstige Haare, und ein paar Strähnen bedeckten ihre rosigen Wangen mit den hohen Backenknochen. Ihr Mund war geschlossen. Sie lächelte nicht, und über der Hand, mit der sie gerade die Strähnen aus dem Gesicht hatte streichen wollen, glänzten graue, warmherzige Augen.
Murph stand neben ihr, die Hände in den Taschen der Jeans. Sie hatte den Arm um ihn gelegt. Er wirkte lebendig. Sein Gesichtsausdruck auf diesem Foto war mir neu, und ich habe eine solche Miene seither nie wieder gesehen. Ich redete mir ein, es wäre die Miene eines Mannes, der wusste, was ihm bevorstand, aber wie hätte er das wissen sollen? Das Foto strahlte – was ich damals nicht begriff – etwas Flüchtiges aus. Er lächelte zögernd, aber entspannt, blinzelte, weil ihn die Sonne blendete. Zeigte dieses Foto etwas, das von Dauer war? Ich fragte mich, ob das Mädchen jemals wieder an dieser Stelle stehen würde. Und wenn ja, würde sie dann wieder den Arm um ihn legen?
»Wer hat das Foto gemacht?«
Er saß in der Hocke, zog eine Zigarette hervor und steckte sie sich zwischen die Lippen. Der süße und würzige Geruch des Tabaks erfüllte die Luft. »Meine Mutter. Im vorletzten Sommer. Ich glaube, wir waren sechzehn, fast siebzehn. Marie ist in Ordnung. Ich mache ihr keine Vorwürfe. Sie ist einfach zu klug, um mit mir zusammenzubleiben.«
Sterling hatte zugehört. Er sprang aus dem Dunkel hinter dem Baum hervor. »Ich würde die Nutte töten«, sagte er. »Wollen Sie diese Scheiße wirklich schlucken, Private?«
»Ich nehme an, dass ich aus dem Spiel bin, Sarge.«
Sterling stemmte die Hände in die Hüften, wartete darauf, dass Murph fortfuhr, schien nicht begriffen zu haben, was dieser gemeint hatte. Doch Murph schwieg. Und ich schwieg auch. Wir starrten den an der Wand lehnenden Sterling an. Hinter uns ging eine Straßenlaterne an, die einzige, die die Schlacht überstanden hatte, erhellte das Feld mit den verstreuten Toten, warf ihr Licht auf die von Mörsergranaten umgepflügte Erde. Das Licht flackerte, und Sterling schien auch zu flackern, zu verschwinden, wieder aufzutauchen. Die Lampe erlosch kurz, und Sterling ging davon.
Jetzt, da ich mich daran erinnere, wünschte ich, Murph hätte sich gewehrt. Nicht wie von Sterling vorgeschlagen, aber er hätte sich wehren müssen. Er hätte zwar nicht die Hoffnung haben dürfen, die Trennung rückgängig machen zu können, aber rückblickend würde ich gern über ihn sagen: Ja, er hat auch gekämpft, hatte den brennenden Wunsch zu leben, und sein Tod kann erklärt werden, welches Versagen oder welche Laune der Natur auch immer dafür verantwortlich waren, nur möchte ich mir nicht vorwerfen müssen, dass ich dafür verantwortlich bin, weil ich nicht bemerkte, dass er sich aufgegeben hatte.
Murph sah mich an, zuckte mit den Schultern. Ich gab ihm das Foto zurück. Er nahm den Helm ab, legte ihn vor sich in den Staub und zog die Casualty Feeder Card aus der Tasche auf der Innenseite. Er betrachtete Foto und Karte im unsteten Licht, und ich sah, was er auf der Karte schon ausgefüllt hatte.
Murph hatte ganz oben die Angaben in die
Weitere Kostenlose Bücher