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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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kann.« Er schwieg. Dann sagte er: »Warum begleiten Sie uns nicht ins Gefecht? Dann würden Sie diese Erfahrung selbst machen.« Kurz darauf verschwand der Journalist, denn er kam durch unser Lachen ins Stottern, zog es vor, sich zu verziehen. Murph hatte das Gefühl durchaus zutreffend beschrieben. Wenn es mich überkam, sagte mir mein Körper immer, er werde Schwitzen und Muskelkrämpfe nicht lange ertragen. Aber das Gefühl verflog nicht, und mir blieb nichts anderes übrig, als es zu verdrängen.
    »Ab jetzt möglichst wenig Licht und Lärm«, flüsterte der Lieutenant. Ich war froh, nicht als Vorposten eingeteilt worden zu sein. Der Typ, der dafür auserkoren war, schwang seine Beine über die niedrige Mauer, die unsere Stellung vom offenen Gelände trennte, und ging auf die schemenhaft graue Stadt zu.
    Während wir auf den Befehl zum Aufbruch warteten, holte Sterling eine kleine Büchse Salz aus seinem Tornister. Ich weiß noch, dass das Etikett ein Mädchen mit Sonnenschirm zeigte. Vermutlich Morton’s. Sterling leerte die Büchse unter dem Weißdorn aus. Murph und ich tauschten einen erstaunten Blick, dann gingen wir zu Sterling. »Äh, Sarge – alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Murph. Sterling verstreute das Salz dort, wo wir über Nacht gelagert hatten.
    »Habe ich aus dem Buch der Richter«, sagte er wie zu sich selbst. Dann hob er den Kopf, sah an uns vorbei in die Nacht, die jenseits des Horizonts zum Tag wurde. »Verschwindet, Jungs«, sagte er. »Ist nur ein Ritual.« Wir ließen ihn allein. Sterling lief hinter uns wie ein Schatten hin und her, streute Salz auf Äcker und Gassen, auf die Toten und den Staub, der in Al Tafar alles zu bedecken schien. Er verstreute es überall, murmelte und sang die ganze Zeit mit einer Stimme vor sich hin, die wir so noch nie gehört hatten. Wir konnten seine Worte nicht verstehen, und obwohl er nicht wütend klang, erschraken wir.
    »Ich glaube, er dreht durch, Bart«, sagte Murph.
    »Sollen wir ihn drauf ansprechen?«, fragte ich.
    Die Mörser feuerten immer noch. Wir zuckten mehrmals pro Minute bei dem kesselpaukenartigen Krachen zusammen, mit dem die Granaten auf der Obstwiese explodierten. Es brannte an mehreren Stellen. Zwischen dem zerfetzten Laub stieg Rauch auf. Kurz vor Tagesanbruch sagte Murph: »Ich schaue mal, was Sterling treibt.« Er legte das Gewehr an und warf einen Blick durch das Zielfernrohr.
    »Und?«
    Ein kurzes Aufblitzen, als die ersten, schwachen Strahlen die Ausläufer im Osten überwanden, auf die Dächer und fahlen Fassaden der Gebäude fielen. Ich drehte mich um und legte eine Hand über die Augen, um Sterling im Morgengrauen besser erkennen zu können. »Und?«, wiederholte ich. »Was treibt er?«
    Sterling schien reglos in der Ferne zu verharren. Vielleicht hatte er all sein Salz verstreut. Wir waren dicht vor der Obstwiese, und meine Beine zitterten immer noch vor Angst. »Was macht er da, Murph?«
    Murph senkte das Gewehr. Sein Mund stand offen. Er schloss ihn. Dann sagte er: »Keine Ahnung, Mann. Er hat eine scheiß Leiche am Wickel.« Murph sah mich mit großen Augen an. »Und er lächelt nicht mehr.«

Fünf März 2005
    Richmond, Virginia
    Über dem Atlantik breiteten sich Wolken aus wie schmutzige Laken über einem ungemachten Bett. Als ich sie betrachtete, wusste ich, dass mein Verstand, egal in welchem Augenblick man dies messen würde, mein Herz nur ansatzweise im Zaum hielt. Unser Leben besteht aus Kontrollverlusten dieser Art, und obwohl es schwer ist zu sagen, was das Herz ausmacht, muss es doch zumindest das sein, was aus jenen Klammern drängt, die Anfang und Ende meines Krieges markierten: Das alte Leben verschwand im Staub über Ninive, noch bevor ich mich daran erinnern oder mich danach zurücksehnen konnte, jung und ungeformt, wie es damals war, und doch schon gebrochen, als ich endlich bis in den hintersten Winkel der Erinnerung vordrang. Ich kehrte nach Hause zurück. Doch die Definition dessen, was mein Zuhause war, fiel mir schwer, und noch schwerer fiel es mir, mich innerlich von dem letzten, abgeschirmten Tal in der Wüste zu lösen, in dem ich den besseren Teil meines Selbst zurückgelassen zu haben schien – als eines von unzähligen Sandkörnern. Mir erging es wie einem Stein, der langsam verwittert, in seine Bestandteile zerfällt, ein Beispiel für die langsame Erosion durch Einwirkung von Wind oder Wellen darstellt. Am Ende lagern sich die Überreste aller Dinge, die einem solchen Prozess ausgesetzt

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