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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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sind, als Schlick in Flussmündungen oder auf dem Grund eines Flusses ab, der eine Stadt durchströmt, und diese Stadt ist das Einzige, woran man sich noch erinnern kann.
    Alles andere ist Geschichte, sagt man. Bullshit, sage ich. Es ist entweder Phantasie oder gar nichts, denn alles, was auf dieser Welt erschaffen wird, kann zerstört oder aufgelöst werden; die Stränge eines Seils kann man auflösen. Aber wenn man das Seil für eine Fähre braucht, um das jenseitige Ufer zu erreichen, muss man einen Weg finden, es wieder neu zu flechten, weil sonst manche in den Strömen ertrinken. Ich wollte es lange nicht wahrhaben, aber jetzt sehe ich ein, dass jedes »Muss« aus sich selbst heraus gedeckt sein muss.
    Vergebung ist eine andere Sache, weil sie nur in absoluter Form erteilt werden kann. Vielleicht ahnt man wenigstens, was im Nachhinein betrauert werden wird, wenn man eine Gruppe junger Männer betrachtet, zusammengesunken in einem Charterflugzeug sitzend, leere Plätze zwischen sich. Hätte Gott, während wir auf dem Heimflug willenlos vor uns hindämmerten, auf uns hinabgeschaut, dann hätten wir ihn vielleicht an ein löcheriges Tuch erinnert, bereit, über die Möbel von tausend unbewohnten Häusern geworfen zu werden.
    Aus der ersten Klasse drang leiser Jubel bis nach hinten, wo die Mannschaften saßen. Die Anspannung, die uns anfangs hatte erbeben lassen, schlug in freudige Erregung um, als das Flugzeug endlich abhob. Offiziere und Unteroffiziere drehten sich auf ihren breiten Sesseln nach uns um, winkten und brüllten, und wir erwiderten Lächeln und Gebrüll so träge, als wären wir unter Wasser. Ich schaute die ganze Zeit aus dem Fenster, weil ich unbedingt das Meer sehen wollte.
    Wir erreichten unsere Flughöhe. Der Flug von Deutschland in die Staaten war relativ kurz, der Atlantik das letzte Hindernis, das uns von unserer Heimat trennte, dem Land der Freiheit, des Reality- TV , der Shopping-Malls und der Venenthrombose. Ich erwachte, den Kopf gegen das Fenster gelehnt, überrascht, dass ich geschlafen hatte. Meine Hand schloss sich um ein nicht vorhandenes Gewehr. Ein Unteroffizier aus dem dritten Zug, der auf der anderen Seite des Ganges saß, lächelte mich an. »Ist mir heute schon zwei Mal passiert«, sagte er. Ich fühlte mich immer noch mies.
    Ich ließ meinen Blick über die im Flugzeug verstreuten Bataillonsangehörigen gleiten. Wie viele waren auf der Strecke geblieben? Murph. Drei Spezialisten aus der Bravo-Kompanie, die beim Essen einem Selbstmordattentäter zum Opfer gefallen waren. Ein Mann aus der HQ -Kompanie, auf der Forward Operation Basis von einer Mörsergranate getötet. Ein anderer, den ich nur vom Hörensagen kannte, von einem Heckenschützen erschossen. Weitere zehn? Oder zwanzig?
    Alle Übrigen saßen als dunkle Schemen auf den Sitzen. Sie waren in dünne Decken gehüllt, zuckten und brummten, schwankten auf den schmalen Sitzen der Businessclass hin und her. Ein Blick aus dem Fenster sagte mir, dass die Nacht noch nicht angebrochen war, obwohl mein Körper sie schon vor Stunden erwartet hatte. Wir flogen mit der Sonne, für eine Weile frei von ihrer Herrschaft über Licht und Dunkel. Ich betrachtete den Ozean, der sich nach dem Aufklaren der Bewölkung unter mir ausbreitete, starrte eine gefühlte Ewigkeit die Wellenkämme an, die zu Wellentälern wurden, die zu Schaumkronen wurden, und hatte das Gefühl, als würden sie einen uralten, zwischen allen Gegensätzen geschlossenen Vertrag brechen.
    Ein paar von den Jungs aus der Schreibstube waren noch wach, verlangten immer wieder nach den Flugbegleiterinnen, die unentwegt hin und her laufen, sich mit sonnengebräunter, nach Flieder und Vanille duftender Brust über die Männer beugen mussten. Die älteren erledigten dies automatisch, drückten die Schultern durch, präsentierten ihre an gebräuntes Wachspapier erinnernde Haut.
    Nach einer Weile schienen die Männer den Spaß an diesem Spiel zu verlieren, denn es wurde still. Ich hörte nur noch das regelmäßige Brummen der Motoren. Während wir Sand, Gras und Felsen der Küste überflogen, ging mir immer wieder der gleiche Gedanke durch den Kopf, doch ich konnte ihn nicht zu Ende bringen. Ich will nach … Ich will … Ich will … Ich … Je weiter wir über das Land flogen, desto grüner wurde es. Die Erde war mit blauen Pools gesprenkelt, den braunen Quadraten der Sportplätze, mit labyrinthischen Siedlungen, deren Häuser wie geklont wirkten. Und das Land war grün.

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