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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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die Füße. Horchte auf mein Herz. Da war es. Zählte die Schläge. Bei jeder Detonation pfiffen Metallstücke unbeherrschbar schnell über meinen Kopf hinweg. Durchatmen. Noch einmal, auch wenn es schwerfiel. Ich musste mich konzentrieren.
    Ich streckte die Waffen, fügte mich in mein Schicksal. Ich existierte nicht mehr. Meine Muskeln waren der Willkür der Nervenenden und Erinnerungen ausgeliefert. »Murph!« Ich hörte meine Stimme, körperlos, sie hallte durch Qualm und Staub. »Murph!« Keine Antwort. Das Gebrüll des Sergeants, der mich gedrillt hatte, ertönte in meinem Kopf, jede einzelne Synapse, die noch in meinem Gehirn aufblitzte, unterwarf sich. Klein machen, Private. Wenn du deinen scheiß Arsch retten willst, mach dich so klein, dass du unter deinen Helm kriechen könntest.
    Ich zählte die Einschläge nicht. Alle Maßeinheiten, ob für Raum oder Zeit, waren nur noch kindischer Aberglaube. Rumms. Rumms. Rumms. Die Erde bebte, ich spürte es in den Handflächen, die bluteten, weil ich verzweifelt versuchte, die trockene Erde vor meinem Gesicht zu einem Schutzwall aufzuhäufen. Ich spürte die Vibrationen bis in die Ellbogen, bis in die Hemdknöpfe, die sich in den Boden bohrten. Klein machen, Private. Klein machen, verfluchte Scheiße, und klein bleiben.
    Dann eine Atempause, vage und kurz wie ein Lichtstrahl, der zufällig durch die Wolken fällt. In meiner Brust krampfte sich alles zusammen, als wären meine Rippen Finger, die sich zu einer arthritischen Faust ballten. Ich lag immer noch lang auf dem Boden. Gesicht und Körper hatten eine flache Mulde ausgescharrt. Erde knirschte zwischen meinen Zähnen, lag als dünner Film auf meiner Zunge, verdreckte meine Nase. Ich schien mit jedem zähen Atemzug Materie einzusaugen, hatte kurz das Gefühl zu fallen – ein Fall wie der aus einem Traum in das Erwachen, nachdem die Finger den letzten nächtlichen Halt verloren hatten.
    Ich horchte vergeblich auf eine Entwarnung. Noch am Leben, dachte ich, Scheiße, ich werde ganz sicher nicht in einem Grab sterben, das ich mit meinen eigenen, blutigen Fingern in die Erde gekratzt habe. Ich kam auf die Knie, aber da schlugen wieder Granaten ein, nun etwas weiter entfernt. Der Beschuss war neu ausgerichtet worden. Weil niemand da war, der mir Entfernung oder Richtung hätte nennen können, lief ich los. Ich hatte Angst. Tränen traten mir in die Augen, ich nässte mich ein, rief idiotischerweise: »Ich stehe!«, stolperte auf wackeligen Beinen weiter, schrie: »Ich laufe!«, schluchzte bei jedem Schritt, stieß atemlos hervor: »Liege!«, als ich in einen Graben mit fauligem Schmutzwasser stürzte, nach dem ich noch Wochen später stank. Ich hob Augen und Nase aus dem Wasser. In der Ferne zerstob ein Sperlingsschwarm, der Beschuss wanderte weiter, ebbte ab. Ich hörte Splitter umhersausen, schnell und pfeifend, aber nicht mehr so nahe. Ich blieb im Dreckwasser liegen, bis ich mir sicher war, dass der Beschuss aufgehört hatte. Grauer Qualm ballte sich im stinkenden Graben. Ich holte tief Luft. Geschafft.
    Ich sah mich um, versuchte herauszufinden, wo ich war. Der Abwassergraben zog sich mitten durch die Basis, verlief unterhalb des Hügels mit der Kapelle und dem Stützpunkt der Sanis, dicht vor jener Erhebung, auf der die Haddschis mit Erlaubnis des Colonels ihre kleinen Stände zwischen Häusern aufgebaut hatten, die schon vor dem Krieg verlassen worden waren. Diese Stände, in der Basis Haddschi-Mall genannt, waren offenbar das Ziel des Mörserbeschusses gewesen und hatten die Hauptwucht des Trommelfeuers abbekommen. Die Haddschis lagen auf den Knien, umklammerten ihre Gebetsketten, stimmten ein düsteres Trauergeschrei an. Ihre kleinen Holzbuden waren fast vollkommen zerstört, Brände waren ausgebrochen, und die freien Flächen des Basars waren von billigen Uhren mit kaputten und verzogenen Zifferblättern übersät, die die Zeit auf jeweils eigene Art maßen. Federn, Spulen und gold- oder silberfarben lackiertes Metall lagen herum, ließen die frisch aufgewühlte Erde in der Sonne glitzern.
    Staub und Explosionsrauch stiegen zu den Wolken auf, die wie hingetuscht am blassblauen Himmel dahinzogen. Eine Sirene warnte mit Verspätung vor dem Beschuss. Ich krabbelte aus dem Graben, lief mit klitschnassen Stiefeln zum brennenden Basar.
    Sanitäter behandelten Verwundete auf einem Innenhof. Ein Händler, aus dessen Drosselvene dunkles Blut pulste, lag im Staub. Seine schwarzen Augen weiteten sich, dann schlossen sie

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