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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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nein, er tat es aus einem anderen Grund. Wir sahen zu, wie sie ein Stück Seife aus einer Schüssel fischte, sich die Hände in einem provisorischen, an einem Pfahl befestigten Spülbecken wusch. Im Nachmittagslicht, das sie einhüllte, zeichnete sich der feine Flaum auf ihrem Nacken ab. Ein paar Wolken zogen am Himmel dahin, und sie ließ sich im Schneidersitz auf der Erde nieder, zündete sich eine Zigarette an und fing leise an zu weinen.
    Und genau dies, dachte ich, brachte Murph dazu, die langen, öden Tage hier zu verbringen – nicht etwa ihre Schönheit. Es war diese Hügelkuppe mit den Zelten, dieser kleine Bereich, in dem sie sich aufhielt, der vielleicht die einzige Stätte von Freundlichkeit und Güte war, die wir jemals gekannt hatten. Es war einleuchtend, dass wir zusahen, wie sie leise schluchzend auf dem staubigen Erdboden saß. Ja, ich begriff, warum er herkam, warum auch ich sitzen blieb: Man wusste nie, ob das, was man sah, nicht bald für immer verschwand. Murph wollte etwas Erfreuliches sehen, wollte eine schöne junge Frau betrachten, suchte nach einem Ort, an dem es noch so etwas wie Mitgefühl gab. Aber das war nicht alles: Er wollte auch eine Wahl haben. Er wollte wieder so etwas wie Sehnsucht verspüren, die wachsende Abstumpfung aufbrechen, selbst entscheiden, womit er sich umgab. Er wehrte sich gegen das, was Zufall oder Schicksal ihm zuteilten, was seine Welt in immer stärkerem Maße bestimmte. Er sehnte sich nach einer Erinnerung, die seinem eigenen Antrieb entsprungen war, als Ausgleich für all die Schrecken.
    Die junge Frau stand auf, warf die Zigarette auf den Boden und trat sie aus, ging an der Pappel und am vertrockneten Zürgelbaum vorbei, beide lieblos irgendwo hingepflanzt. Sie ging zur Kapelle, die wie ein Nachgedanke ihrer selbst in einer staubigen Senke stand, ganz in der Nähe der Netze, mit denen man die auf der gegenüberliegenden Hügelseite stehenden Geschütze getarnt hatte. Durch Ritzen zwischen den schiefen Brettern fiel Licht quer durch die Kapelle. Der Turm mit dem schmucklosen Kreuz war sogar noch vom Stadtrand aus zu erkennen. Die junge Frau stand vor dem schlichten, weißen, heruntergekommenen Gebäude. Es hatte keine Türblätter, den Fenstern fehlten Rahmen und Scheibe. Die junge Frau lief durch den Staub, der hinter ihr in kleinen Wolken aufstieg.
    Ich legte Murph eine Hand auf die Schulter. »Wir kriegen das hin«, sagte ich. »Wir haben einander. Wir wissen, was hier abgeht.«
    »Genau deshalb will ich mit niemandem zu eng sein. Wir können doch nicht eng sein, nur weil wir hier sind. Das geht nicht.«
    »Nein, Mann«, sagte ich. »Du und ich, wir wären überall Freunde. Es liegt nicht daran, dass wir hier sind.« Ich weiß nicht, ob ich das ernst meinte. Damals war alles so anders, so fremdartig und ungefiltert, und zum Nachdenken blieb wenig Zeit, und ich war kurzsichtig, weil ich immer nur darauf achtete, während der nächsten paar Minuten nicht getötet zu werden. Ich weiß nicht einmal, ob Murph und ich wirklich so eng miteinander waren. Ich habe erst im Nachhinein versucht, alles zu verstehen, zu begreifen, worin meine Schuld bestand.
    Ich griff nach seiner Hand und zog ihn auf die Beine, und wir brachen auf, wollten zu unserem Zug zurückkehren. Ich ahnte, was er hatte sagen wollen: Er war fest entschlossen, sich durch seine Anwesenheit an diesem Ort an nichts und niemanden binden zu lassen, nicht einmal an mich. Das machte mir Angst, denn was, fragte ich mich, würde es ihn kosten, sich an dieses Vorhaben zu halten?
    Wir waren erst ein paar Schritte gegangen, da begann der Mörserbeschuss. Die Granaten durchschnitten die Luft mit einem Pfeifen, das sich anhörte, als würde der Himmel kochen. Wir starrten einander an, Murph und ich, wussten, dass wir innerhalb der Bruchteile von Sekundenbruchteilen in Stücke gerissen werden konnten. Einen Wimpernschlag lang waren wir weder mutig noch ängstlich. Entsetzen traf Entsetzen, ein Blickwechsel zwischen aufgescheuchten Pferden. Schwer zu sagen, wo die erste Granate einschlug, aber es war ganz in der Nähe. Die Detonation glich dem Schlag einer eisernen Faust gegen die Brust der Erde, ihr Lärm hüllte mich ein. Der Boden wankte. Ich sah einen grellen Blitz, dann grauen Rauch, schlierig wie schmutzige Farbe auf einer verwaschenen Leinwand, und die Wucht des Einschlags schien alle Formen aufzulösen.
    Ich warf mich instinktiv auf den Boden, legte die Hände auf den Kopf, riss den Mund auf, überkreuzte

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