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Die Sonne war der ganze Himmel

Die Sonne war der ganze Himmel

Titel: Die Sonne war der ganze Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Powers
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sich. Er strampelte mit den Beinen, seine braunen, ausgetretenen Sandalen zuckten auf und ab, malten ein abstraktes Muster in den Staub. Die Sanis hielten seinen Hals, drückten auf die Wunde, ohne die Blutung stoppen zu können. Schließlich zuckte er ein letztes Mal, sackte im Staub in sich zusammen. Die anderen fliegenden Händler, die ihn umringten, scheuchten die Sanis weg und wuchteten seinen Leichnam auf ihre Schultern. Sein Blut durchtränkte ihre weißen Gewänder und Kopftücher. Sie betteten den Leichnam auf ein Sperrholzbrett, das sie über den ausgetrockneten Springbrunnen im Innenhof des Basars gelegt hatten, und stimmten einen jenseitigen Gesang an. Die in der Nähe der Kapelle stationierten Geschütze begannen zu feuern. Jeder Zug an der Abzugsleine schickte eine Granate in die Stadt. Dort, wo der Mann gestorben war, hatte sich die Erde rotbraun verfärbt, wies seltsame Abdrücke von den letzten Zuckungen seiner Arme und Beine auf. Ich hockte mich hin, um sie genauer zu betrachten, musste aber gegen einen Brechreiz ankämpfen, wandte mich gleich wieder ab. Diese Abdrücke durchzogen meine Erinnerung wie Risse eine erodierte Landschaft, und selbst als ich mich von der Stelle entfernte, hatte ich es noch deutlich vor Augen – das Bild eines makellosen, aus Blut und Staub bestehenden Engels.
    Ich schwankte auf unsicheren Beinen Richtung Kapelle. Der Turm war eingestürzt, das zerbrochene Holzkreuz hatte sich neben einem Tamariskengehölz in die Erde gebohrt. Die junge Frau, die Sanitäterin, lag wie von mir befürchtet neben der Kapelle auf dem Boden, die Augen halbgeschlossen. Der Wind zerzauste ihre Haare auf eine zugleich reale und surreale Art. Zwei junge Soldaten beugten sich über sie, versuchten schweigend, sie wiederzubeleben, rutschten hin und her, als würden sie eine Pantomime aufführen.
    Als ich die beiden erreichte, sah einer zu mir auf. »Ich glaube, sie ist tot«, sagte er. Der andere drehte sich um – es war Murph, er lag stumm und reglos auf den Knien, die Hände auf den Oberschenkeln, den Blick auf die Frau gesenkt. Sein Mund stand offen. »Ich bin erst gestern hier angekommen«, sagte der junge Soldat neben ihm. »Woher soll ich wissen, was ich tun muss?« Er begann zu weinen und schrie dann: »Wo waren die scheiß Sanis?« Ich ergriff ihn bei den Schultern, zog ihn hoch.
    »Na los, Kamerad«, sagte ich. »Wir müssen sie wegtragen.«
    Wir hoben zwei schiefe, verwitterte Bretter auf, die sich aus der Kapellenwand gelöst hatten und auf die Frau gestürzt waren. Die Wucht der Explosion hatte ihr Hemd aufgerissen, die tiefe Wunde an ihrer Seite blutete schon nicht mehr. Ihre Haut war aschgrau. Leichenblass. Wir schlossen das Hemd über ihrer Brust, schoben drei Bretter zusammen und legten sie darauf.
    Ich band die Bretter mit Stricken zusammen und packte das Kopfende. »Los, Murph«, sagte ich, »fass mit an.« Der Neue packte die Bretter am Fußende, doch Murph blieb in den schwelenden Ruinen der Kapelle sitzen und murmelte in einem fort: »Was gerade passiert ist …« Wir brachen auf, trugen die Tote zum Stützpunkt der Sanis, oben auf dem Hügel. Murphs Litanei blieb hinter uns zurück.
    Wir kamen an einem Gehölz aus Erlen und Weiden vorbei, die sich vor den Bränden duckten. Ihre alten Zweige beklagten die auf der knarrenden Bretterbahre liegende Tote. Wir versuchten, so würdevoll und vorsichtig wie möglich zu gehen, aber unsere Hände verkrampften sich zusehends, dünne Splitter rissen die Handflächen auf. Ein Trupp junger Soldaten hielt beim Durchzählen inne, und alle drehten sich nach uns um, standen in ihren Tarnanzügen Spalier, während wir die Tote den flachen Hang hinauftrugen. Wir setzten die Bahre auf der Kuppe unter einem Baum ab. Der Körper der jungen Frau war jetzt bläulich, wirkte fast durchscheinend. Ein Soldat rief die Sanis, und wir schauten zu, wie sie ihre Freundin in die Arme nahmen, unter Schreien drückten und küssten. Sie lag stumm und schwankend in ihren Armen. Ich verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Als ich aufbrach, begann der Muezzin zu rufen. Die untergehende Sonne hing wie ein Blutklumpen über dem Horizont. Das Feuer war von der einstürzenden Kapelle auf die Tamarisken übergesprungen, und die Flammen loderten, als wollten sie meinen Weg erhellen.

Neun November 2005
    Richmond, Virginia
    Bei Anbruch des nächsten Herbstes hatte ich eine Wohnung im ehemaligen, dicht am Fluss gelegenen Gaswerk bezogen. Ich war meist allein, mein Alltag

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