Die Sonnenposition (German Edition)
ihn an mich, klemme ihn mir unter den Arm, so daß mein Kittel ihn bedeckt, und während ich die geschwungene Treppe wieder hinaufsteige, verliert meine Flanke jegliches Gefühl, wird die Innenseite meines Arms eiskalt. In meinem Schlafzimmer lege ich zwei tiefgefrorene Reibekuchen auf die Heizung. Mit dem restlichen Beutel gehe ich noch einmal auf den Flur. Der Kühlschrank stand irgendwo herum, und man hat ihn neben mein Zimmer geschafft, um mir das Gefühl zu geben, Privilegien zu genießen. Er besitzt kein Eisfach, ich werde die Reibekuchen ganz langsam in ihm auftauen lassen.
Ich lege mich ins Bett und sehe schon von weitem Bilder auf mich einstürmen. Seladongrün. Schleiflack. Textiltapeten. Bilder, die mir fremd sind, als träumten mir die Tagesreste anderer, Erinnerungen vielleicht der Patienten, der Mitarbeiter, die sich täglich in diesem Gebäude aufhalten. Als ergäbe sich aus der räumlichen Nähe automatisch eine menschliche Übereinstimmung, eine Durchlässigkeit. Brände: weil die Patienten am Abend in den Nachrichten den Brand einer Großfabrik verfolgten. Messer: weil eine Patientin beschrieben hat, wie sie sich ritzt. Gesichter: Eltern, die nicht die meinen sind. Ich lege mir die Decke über, und sie stürmen aus der Ferne heran, füllen den Raum, und mir wird das Atmen schwer. Natürlich weiß man Dinge aus der Vergangenheit anderer. Die eigene Vergangenheit stellt man sich ja auch nur vor. Modifiziert sie. Richtet sie neu aus. Kollektivträume. Träume, die mich heimsuchen, weil sich die Grenzen lockern, je mehr man sich mit dem anderen befaßt. Als müßte ich alles, was sich hier in diesen Mauern abgespielt hat, in mein persönliches Bewußtsein aufnehmen. Ich werde von den Traumbildern der anderen erdrückt, sie wollen mich verdrängen, und kurz bevor ich im Schlund eines schlechten Gewissens verschwinde, schrecke ich wieder auf.
Einmal kam ich in der Nacht aus der Eifel zurück und fuhr einen kleinen Umweg durch Odilos Straße. Ich hielt am Werkszaun an. Die Straßenlaternen einseitig abgeblendet, damit sie den Schlaf in der Häuserzeile nicht störten. Auf dem gemauerten Torpfosten vor seinem Haus brannte ebenfalls eine Laterne, auf antik gemacht, mit schmiedeeisernen Schnörkeln, gelbem Glas. Ich wollte für einen Moment unter seinem Fenster stehen und die undurchdringliche Schwärze der Scheibe betrachten. Ich wollte das Summen der Weck-Werke hören, die Strahler sehen, die das Gelände auf dieser Straßenseite die ganze Nacht mit einem Lichtzelt versahen. Noch bevor ich aussteigen konnte, öffnete sich die Haustür. Odilo trat auf den Bürgersteig, ließ das Gartentor offen, ging ein Stück unter den Laternen entlang, kam zurück und ging in die entgegengesetzte Richtung, eigenartig ungerührt, ja selbstbewußt ging er auf und ab und dennoch wie planlos. Er reckte keineswegs theatralisch die Arme vor, er sah aus, als habe er sich nur eben mechanisch eine Jacke übergeworfen, um zu vorgerückter Stunde eine geringfügige Besorgung zu machen. Mal eben zum Zigarettenautomaten, mal eben noch mit dem Hund. Doch er rauchte nicht, und er haßte Hunde. Man richtet sich im Bett auf. Es beginnt mit einigen unverständlichen Sätzen, dem Nesteln an der Bettdecke.Man steht auf, öffnet Schränke und Türen. Man pflegt Formen der Genauigkeit. Aufwachgewohnheiten, die sich verselbständigen. Seine Augen hielt er aufgerissen. Er sah mich nicht. Nur ich habe ihn gesehen. Er war Schlafwandler. Ich nehme an, daß ich der einzige bin, der davon wußte. Um diese Zeit war in seinem Vorort niemand wach. Auch seine Mutter schlief, niemand sonst hat ihn bemerkt. Er wußte wohl selbst nichts davon. Schlafwandler können sich an ihr Wandeln nicht erinnern. Und ich habe ihm nicht davon erzählt.
Odilo konnte gegen Ende seines Lebens immer weniger schlafen. In den letzten Wochen schlief er womöglich gar nicht mehr. Als sei seine Schlaflosigkeit auf mich übergegangen: Seit ich im Schloßgebäude nächtige, schlafe ich schlecht.
Meine neue Wohnung stammt aus Zeiten des praktizierten Sozialismus, es ist eine Kommunalwohnung, ein Relikt, das doch mit größter Selbstverständlichkeit behandelt wird. Nach dem Vorbild der Zimmerreihe einer Amalienwohnung, des Schlafzimmers eines Hohenzollernprinzen inmitten einer Flucht von Durchgangszimmern, hat man die Räumlichkeiten im Schloß in größere und kleinere Wohnungen aufgeteilt.
Zwischen den einzelnen Wohnbereichen gibt es nur ungesicherte Grenzen. Ein Kollege hat
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