Die Sonnenposition (German Edition)
– man könnte sich im Haus verschanzen, hinter hohen Hecken im Garten sitzen, seine Einkäufe abends erledigen, wenn die Patienten zurück sein müssen. In dieser Art hält es Frau Dr. Z. Sie läßt einkaufen, und sie geht nur selten aus dem Haus.
Ich hingegen gehe sehr weit und sehr viel, es befriedigt mich, einen maximalen Abstand zu den Patienten zu erzeugen, durch reine Muskeltätigkeit, durch Eigenleistung. Und in einer Institution, die einen Teil ihrer Fenster vergittert hat, in der die Macht darin besteht, über ein Schlüsselbund zu verfügen, erleichtert es mich, mir zu beweisen, daß ich theoretisch immer noch gehen kann, wann und wohin ich will. Freier Wille: Die Patienten lustwandeln im Kurhotel – ich habe Ausgang aus dem Narrenschloß, und ich muß zu festgesetzter Zeit, zu Arbeitsbeginn, zurück sein.
Um in dieser Institution eine Wohngemeinschaft durchzustehen, bedarf es einer Persönlichkeit, die weniger empfindsam ist; ich bin für diese Stellung ungeeignet, aber mangels Alternativen meinerseits versuche ich den Eindruck zu erwecken, der richtige Mann am richtigen Ort und mit allem zufrieden zu sein. Und mangels Alternativen ihrerseits, das sind Personalengpässe, mindere Bezahlung, Probleme mit der Unterbringung der Angestellten, gibt meine Chefin vor, daß mir das vollkommen gelänge.
Weil ich beleibt bin, findet sie mich gemütlich, und sie assoziiert damit vor allem eine Gemütsruhe, die mir leider nicht zu eigen ist.
Man fragt sich ja seitens der Ärzteschaft immer, wie wirkt sich das soziale Umfeld auf die Bildung der Persönlichkeit aus. Ich kann dazu nur sagen, daß die lebenslange Zuschreibungvon Gemütsruhe seitens des sozialen Umfelds keinerlei Auswirkung auf meine Persönlichkeit hatte. Ich müßte längst vor lauter Gemütsruhe petrifiziert sein, ein Fels in der Brandung. Und aufgrund des Augenscheins, also meines Körperumfangs, glaubt das Umfeld, solches sei der Fall, leugnet das Umfeld meine Empfindlichkeit.
Wir saßen im Kreis in der Gruppentherapie. Herr V. berichtete weitschweifig von seiner Problematik. Die übrigen Teilnehmer, die inzwischen gelernt haben, daß und wie man aufeinander eingeht, fanden verständnisvollste Worte. Herr V. fühlte sich ermutigt, sein Lamento hielt an. Ich saß mit allen anderen im Kreis, nicht herausgehoben, wie es die Regel ist. Gleichberechtigung, Selbsterfahrung, Feedback der Gruppe. An einem gewissen Punkt der Unterhaltung erhob ich mich und verließ den Raum. Ich verließ das Klinikgelände und ging an den See.
Als ich mehrere Stunden später zurückkehrte, war niemand irritiert. Frau Dr. Z. hatte von meinem Verhalten bereits erfahren. Sie sprach mich beim Abendessen darauf an und sah ihren Reformprozeß mit modernsten Methoden fortgeführt. Fels in der Brandung, gelungene Intervention. Den Patienten Vertrauen schenken und sie sich selbst überlassen. Der richtige Zeitpunkt, Fingerspitzengefühl. Meine Chefin gesteht mir alle Freiheiten zu. Sie hält große Stücke auf mich.
Ein kalter, klarer Tag. Der See ist bereits eisfrei. Die Buchen noch kahl, am Boden erstes Grün. Am See führt ein Trampelpfad entlang, über holpriges Wurzelwerk, über matschiges Laub. Es riecht streng am See, ich habe das Bedürfnis, diesem Geruch auszuweichen, kann aber die Quelle nicht ausmachen. Da trete ich auf etwas Weiches. Es gibt auf eine seltsame Weise nach, macht ein schmatzendes Geräusch, ich nehme entsetzt den Fuß zurück und ziehe instinktiv die Jacke enger um mich.Sie liegen am Ufer und stinken bestialisch. Erfrorene Aale und Karpfen, Rotaugen, Zander. Sie riechen nach verdorbenem Fisch. Ich versuche, nicht zu atmen, ich gehe schneller und bedauere jetzt doch, auf die Gummistiefel verzichtet zu haben.
Die Fische liegen grau im alten Laub und haben jeden Glanz verloren. Ihre Augen starren stumpf ins Nichts, ihre Mäuler sind halb aufgesperrt, die Zähne der Raubfische stecken quer in der Landschaft, sie sind unbesänftigt.
Ich umrunde den See, ich beeile mich und achte sorgfältig darauf, wohin ich die Füße setze. Ein entmachteter Hecht liegt quer über dem Pfad, beinah hätte ich ihn übersehen, weil er so stumpf entfärbt ist wie ein Stück Buchenast. Noch einmal, jetzt mit vollem Bewußtsein, trete ich vorsichtig auf einen Fisch. Ich stelle den Fuß auf den Hecht und federe leicht ab, prüfe die Konsistenz. Auch dieser Fisch liegt nicht in Totenstarre, er gibt weich nach. Es ist dieselbe Nachgiebigkeit, die ich auch an mir empfinde, eine
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