Die souveraene Leserin
schon herumgesprochen. Früher einmal hatten die reizenden Menschen eine Osterglocke oder einen Strauß halb vertrockneter Schlüsselblumen dabei, welche Ihre Majestät dann zu uns nach hinten durchgereicht hat. Heutzutage bringen sie die Bücher mit, die sie gerade lesen, oder, man stelle sich vor, die sie schreiben, und wenn man das Pech hat, Dienst zu haben, braucht man praktisch einen Einkaufswagen. Wenn ich Romane durch die Gegend schieben wollte, wäre ich Buchhändlerin geworden. Ich fürchte, Ihre Majestät wird langsam ein bisschen schwierig, wie man so sagt.«
Dennoch stellte sich der Hof auf die neue Situation ein, und auch wenn ihre Begleiter nur sehr widerwillig mit ihren Gewohnheiten brachen, änderten sie doch im Lichte der neuen Vorlieben Ihrer Majestät die Richtung der Vorbesprechungen. Sie wiesen darauf hin, dass die Queen zwar wie früher fragen könnte, wie weit und mit welchen Verkehrsmitteln die Betreffenden angereist waren, dass sie jedoch mit größerer Wahrscheinlichkeit wissen wollen würde, was sie gerade lasen.
Daraufhin sahen die meisten Menschen sie verständnislos (und gelegentlich panisch) an, aber die Bediensteten des Hofes hatten rasch ein paar Vorschläge. Das hatte zwar zur Folge, dass die Queen einen nicht repräsentativen Eindruck von der Popularität gewisser Autoren wie Andy McNab oder Joanna Trollope bekam, aber sei’s drum: Immerhin wurde so manche Verlegenheit vermieden. Und nachdem für Antworten gesorgt war, verliefen die Begegnungen auch wieder nach Zeitplan, genau wie früher, und Verzögerungen gab es nur, wenn einer der Untertanen seiner Vorliebe für Virginia Woolf oder Charles Dickens Ausdruck verlieh, was sofort eine lebhafte (und langatmige) Diskussion zur Folge hatte. Viele hofften auf ein ähnliches Gespräch unter Gleichgesinnten, wenn sie sagten, sie läsen Harry Potter, aber darauf antwortete die Queen (die mit Fantasy nichts anfangen konnte) regelmäßig mit einem knappen »Ja, das hebe ich mir für Regentage auf« und wandte sich rasch zum Gehen.
Da Sir Kevin sie fast täglich sah, konnte er der Queen wegen ihrer neuen Begeisterung, die inzwischen fast zu einer Besessenheit geworden war, ständig zusetzen und dazu neue Herangehensweisen entwickeln. »Ich habe überlegt, Ma’am, ob wir Ihre Lektüre nicht irgendwie einbinden könnten.«
Früher hätte sie das unkommentiert gelassen, aber als eine Folge ihrer Leseleidenschaft war ihr die Toleranz für Worthülsen (die noch nie besonders ausgeprägt gewesen war) gänzlich abhandengekommen.
»Sie einbinden? In was denn wohl?«
»Ich spinne hier nur mal ein paar Gedanken, Ma’am, aber es wäre sicher hilfreich, wenn wir eine Presseerklärung des Inhalts herausgeben könnten, dass Ihre Majestät neben englischer Literatur auch ethnische Klassiker liest.«
»An welche ethnischen Klassiker hatten Sie da gedacht, Sir Kevin? Das Kamasutra?«
Sir Kevin seufzte.
»Ich lese gerade Vikram Seth. Würde der auch zählen?«
Der Privatsekretär hatte zwar noch nie von ihm gehört, aber der Name klang richtig.
»Salman Rushdie?«
»Eher nicht, Ma’am.«
»Ich sehe allerdings gar keine Notwendigkeit für eine Presseerklärung. Warum sollte es die Öffentlichkeit interessieren, was ich lese? Die Königin liest. Mehr brauchen sie nicht zu wissen. Ich könnte mir vorstellen, die allgemeine Reaktion dürfte ›na und?‹ lauten.«
»Lesen heißt sich zurückziehen. Sich unzugänglich zeigen. Es wäre leichter, wenn es sich um eine weniger… weniger selbstsüchtige Beschäftigung handelte.«
»Selbstsüchtig?«
»Vielleicht sollte ich eher ›solipsistisch‹ sagen?«
»Vielleicht.«
Sir Kevin gab nicht auf. »Wenn wir Ihr Lesen einem höheren Zweck unterordnen könnten – die Belesenheit der Nation insgesamt, die Verbesserung der Lesefähigkeit der Jugend…«
»Man liest zum Vergnügen«, sagte die Queen. »Lesen ist keine Bürgerpflicht.«
»Vielleicht sollte es eine werden«, sagte Sir Kevin.
»Unverschämtheit«, sagte der Herzog, als sie ihm abends von dem Gespräch erzählte.
Wo schon vom Herzog die Rede ist – wie kam die Familie mit all dem zurecht? Wie sehr schränkte sie das Leseverhalten der Queen ein?
Hätte es zu den Pflichten der Queen gehört, Essen zu kochen, einzukaufen oder, unvorstellbar, das Haus beziehungsweise die Häuser staubfrei zu halten, so wäre der sinkende Standard sofort aufgefallen. Doch sie musste natürlich nichts dergleichen tun. Zwar erledigte sie ihre Aufgaben
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