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Die souveraene Leserin

Die souveraene Leserin

Titel: Die souveraene Leserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bennett
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gelegentlichen Bemerkungen Normans sagte ihr niemand, was sie lesen sollte und was nicht. Lauren Bacall, Winifred Holtby, Sylvia Plath – wer waren sie? Nur durch Lesen konnte sie es herausfinden.
    Einige Wochen später blickte sie von ihrem Buch auf und sagte zu Norman: »Wissen Sie noch, als ich Sie meinen Amanuensis genannt habe? Jetzt habe ich auch herausgefunden, was ich bin. Nämlich eine Opsimathin.«
    Norman hatte das Lexikon jederzeit zur Hand und las vor: »Opsimath, -in: ein Mensch, der erst spät im Leben zu lernen beginnt.«
    Dieses Gefühl, verlorene Zeit aufholen zu müssen, trieb sie beim Lesen zur Eile, und allmählich kommentierte sie das Gelesene auch häufiger (und selbstbewusster). Im Grunde betätigte sie sich als Literaturkritikerin, und das tat sie mit der gleichen Offenheit und Geradlinigkeit, die sie auch in anderen Lebensbereichen an den Tag legte. Sie war keine nachsichtige Leserin und wünschte sich oft, die Autoren vor sich zu haben, um sie in die Pflicht zu nehmen.
    »Geht es nur mir so«, schrieb sie, »dass ich Henry James mal richtig den Kopf waschen möchte?«
    »Ich kann mir vorstellen, warum Dr. Johnson in hohem Ansehen steht, doch ein großer Teil seiner Ansichten ist doch wohl tendenziöses Geschwätz.«
    Henry James war es auch, den sie einmal beim Tee las, als sie laut sagte, »Ach, nun aber mal los.«
    Das Hausmädchen wollte gerade den Teewagen hinausschieben, sagte, »Entschuldigung, Ma’am«, und war in weniger als zwei Sekunden aus dem Zimmer gehastet.
    »Nicht Sie, Alice«, rief die Queen hinter ihr her und ging dafür sogar zur Tür. »Nicht Sie.«
    Früher einmal wäre es ihr egal gewesen, was das Hausmädchen dachte oder ob sie ihre Gefühle verletzt hatte, jetzt aber nicht mehr, und als sie zu ihrem Stuhl zurückkehrte, überlegte sie, wieso. Dass dieser Zuwachs an Mitgefühl mit Büchern zusammenhängen könnte, sogar mit Henry James, über den sie sich doch ständig ärgerte, kam ihr in dem Augenblick nicht in den Sinn.
    Auch wenn ihr der immense Nachholbedarf immer auf der Seele lag, wurde er doch bisweilen von einem anderen Bedauern überlagert: dass sie so viele berühmte Schriftsteller hätte kennenlernen können und es nicht getan hatte. Daran immerhin konnte sie noch etwas ändern, und so beschloss sie, zum Teil auf Normans Anraten, dass es doch interessant und vielleicht gar amüsant wäre, einige der Autoren, die sie beide gelesen hatten, auch zu treffen. Also wurde ein Empfang vorbereitet, oder eine Soirée, wie Norman es unbedingt nennen wollte.
    Die Protokollbeamten erwarteten natürlich, dass der gleiche formelle Rahmen wie bei den Gartenpartys und anderen großen Empfängen Bestand haben werde, dass man also die Gäste darauf vorbereiten würde, bei wem Ihre Majestät höchstwahrscheinlich stehenbleiben werde, um zu plaudern. Die Queen war jedoch der Ansicht, solche Förmlichkeiten seien hier nicht am Platze (es handelte sich schließlich um Künstler) und man solle alles dem Zufall überlassen. Das erwies sich als Fehleinschätzung.
    Waren die Autoren, denen sie einzeln begegnet war, auch schüchtern oder gar furchtsam gewesen, so waren sie in der Gruppe laut, schwatzhaft und, obwohl sie viel lachten, nach ihrem Dafürhalten nicht besonders witzig. Oft stand sie am Rande eines Grüppchens herum, niemand machte sich die Mühe, sie einzubeziehen, und so kam sie sich bald wie ein Gast auf ihrer eigenen Gesellschaft vor. Wenn sie dann einmal etwas sagte, ließ sie damit entweder das Gespräch erlahmen und ein unangenehmes Schweigen entstehen, oder die Schriftsteller nahmen keinerlei Notiz von ihr, wahrscheinlich, um ihre intellektuelle Unabhängigkeit und geistige Überlegenheit zu demonstrieren, und redeten einfach weiter.
    Es war aufregend, unter Literaten zu sein, die sie beim Lesen als Freunde betrachtet hatte und die sie nur zu gern kennenlernen wollte. Doch als sie mit denjenigen, deren Bücher sie gelesen und bewundert hatte, nun über ihre verwandten Empfindungen sprechen wollte, fand sie nichts zu sagen. Ausgerechnet ihr, die sie sich in ihrem ganzen Leben von kaum jemandem hatte einschüchtern lassen, fehlten auf einmal die Worte, und sie fühlte sich unbeholfen. »Ich fand Ihr Buch wunderbar« hätte alles gesagt, aber fünfzig Jahre Haltung und Selbstbeherrschung plus ein halbes Jahrhundert Understatement hielten sie von solchen Sätzen ab. Da sie sich also mit Konversation schwertat, fiel sie auf ihre Standardroutine zurück. Sie fragte

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