Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die souveraene Leserin

Die souveraene Leserin

Titel: Die souveraene Leserin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Bennett
Vom Netzwerk:
weniger sorgfältig, doch das betraf weder ihren Gatten noch ihre Kinder. Es betraf allerdings (oder »hatte negative Auswirkungen auf«, wie Sir Kevin sich ausdrückte) die Öffentlichkeit, denn sie kam ihren offiziellen Verpflichtungen mit sichtbarem Unwillen nach: Grundsteine wurden weniger schwungvoll gelegt, die wenigen Schiffe, die noch zu taufen waren, sandte sie mit kaum mehr Zeremoniell auf hohe See hinaus, als man ein Spielzeugboot auf den Teich setzt, denn immer wartete ein Buch auf sie.
    Das bereitete vielleicht ihrem Hofstaat Sorge, ihre Familie jedoch war eher erleichtert. Sie hatte immer alle auf Trab gehalten, und das Alter hatte sie nicht nachsichtiger gemacht; das Lesen wohl. Sie ließ die Familienmitglieder in Frieden, wies sie kaum noch zurecht, und alle waren entspannter. Ein Hoch auf die Bücher, so war die allgemeine Familienstimmung, es sei denn, man sollte welche lesen, oder Großmutter bestand darauf, über sie zu sprechen, fragte die Enkel über ihre Lesegewohnheiten aus oder, das war am schlimmsten, drückte ihnen Bücher in die Hand und prüfte später nach, ob sie auch gelesen worden waren.
    Derzeit stieß man oft in seltsamen und selten betretenen Winkeln ihrer verschiedenen Wohnsitze auf sie, die Brille auf der Nasenspitze, Notizbuch und Bleistift neben sich. Sie schaute dann kurz hoch und hob vage grüßend die Hand. »Schön, wenn immerhin eine glücklich ist«, grummelte der Herzog und schlurfte weiter durch den Korridor. Und das stimmte: Sie war glücklich. Das Lesen machte ihr mehr Freude als alles andere, und sie verschlang in erstaunlichem Tempo Bücher. Auch wenn, abgesehen von Norman, niemand staunte.
    Und anfänglich sprach sie auch mit niemandem über ihre Lektüre, auf gar keinen Fall in der Öffentlichkeit, denn sie wusste, eine derart spät erblühte Begeisterung, so löblich sie auch sein mochte, konnte sie der Lächerlichkeit preisgeben. Es wäre kaum anders, dachte sie, wenn sie eine Leidenschaft für Gott oder Dahlien entwickelt hätte. Warum, dachten die Leute dann, fing sie in ihrem Alter noch damit an? Sie selbst jedoch konnte sich keine ernsthaftere Beschäftigung vorstellen, und sie dachte vom Lesen das Gleiche wie manche Schriftsteller vom Schreiben, dass man es nämlich unmöglich nicht tun konnte und dass sie in ihrem fortgeschrittenen Alter zum Lesen berufen war, so wie andere zum Schreiben.
    Zugegeben, sie hatte eher furchtsam und mit Unbehagen zu lesen begonnen. Die schiere Unendlichkeit der Literatur hatte sie eingeschüchtert, sie wusste nicht, wie sie die Sache angehen sollte; ihre Lektüre folgte keinem System, ein Buch führte zum anderen, oft las sie zwei oder drei gleichzeitig. In der nächsten Phase hatte sie angefangen, sich Notizen zu machen, und bald schon las sie nie mehr ohne Bleistift. Sie fasste das Gelesene nicht etwa zusammen, sondern schrieb einfach Stellen ab, die sie ansprangen. Erst nach einem Jahr Lesen und Notieren versuchte sie gelegentlich vorsichtig, eigene Gedanken zu formulieren. »Für mich«, so schrieb sie, »ist Literatur ein riesiges Land, zu dessen fernen Grenzen ich mich aufgemacht habe, die ich aber unmöglich erreichen kann. Und ich bin viel zu spät aufgebrochen. Ich werde meinen Rückstand niemals aufholen.« Und dann (ein damit nicht zusammenhängender Gedanke): »Etikette mag schlimm sein, aber Peinlichkeit ist schlimmer.«
    Auch eine gewisse Traurigkeit lag im Lesen – zum ersten Mal im Leben hatte sie das Gefühl, einiges verpasst zu haben. Sie hatte eine der zahlreichen Lebensgeschichten Sylvia Plaths gelesen und war ehrlich gesagt recht froh darüber, Derartiges größtenteils versäumt zu haben, doch als sie Lauren Bacalls Memoiren las, musste sie sich eingestehen, dass Ms. Bacall sich doch einen viel größeren Bissen gegönnt hatte und dass sie die Schauspielerin zu ihrer leichten Überraschung darum beneidete.
    Dass die Queen so unbeschwert von der Autobiographie einer Leinwandgröße zu den letzten Tagen einer selbstmörderischen Dichterin wechseln konnte, mag unpassend und achtlos wirken, doch besonders in den Anfangstagen ihrer Lesebegeisterung waren für sie alle Bücher gleich, und sie fühlte sich verpflichtet, ihnen ebenso wie ihren Untertanen vorurteilsfrei gegenüberzutreten. So etwas wie pädagogisch wertvolle Bücher gab es für sie nicht. Bücher waren unkartiertes Gebiet, jedenfalls zu Beginn ihrer Reise, und sie machte keine Unterschiede. Mit der Zeit wuchs ihre Urteilskraft, doch abgesehen von

Weitere Kostenlose Bücher