Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
ein evolutionärer Fortschritt wurde möglich, als der Mensch die Fähigkeit zum abstrakten Denken entwickelte. Jetzt konnte der menschliche Geist eine abstrakte Form für eine Gestalt, einen Gegenstand oder eine Handlung bilden, und er konnte eine konkrete Darstellung des Gedankens an andere weiterreichen. Hier liegt auch der Ursprung echter, produktiver Sprache, die sich aus willkürlichen Wörtern und Symbolen zusammensetzt. Der Sprache folgten die darstellende Kunst, Musik, Tanz und die religiösen Rituale.[ 72 ]
Wann genau der Prozess zu echter bildender Kunst führte, ist unbekannt. Bereits vor 1,7 Millionen Jahren formten die Vorfahren des modernen Menschen, höchstwahrscheinlich der Homo erectus, grobe tropfenförmige Steinwerkzeuge. Sie wurden wahrscheinlich in der Hand gehalten und dienten dem Zerkleinern von Gemüse und Fleisch. Ob sie auch als mentale Abstraktion repräsentiert oder nur auf dem Weg der Nachahmung hergestellt wurden, ist unbekannt.
Vor 500.000 Jahren, in der Zeit des schon sehr viel größeren Gehirns beim Homo heidelbergensis , einer zeitlichen und anatomischen Zwischenform zwischen Homo erectus und Homo sapiens , waren Faustkeile schon raffinierter, und dazu kamen sorgfältig hergestellte Steinklingen und Pfeilspitzen. Nochmals 100.000 Jahre später benutzte der Mensch hölzerne Speere, für deren Bau mehrere Tage und viele Einzelschritte nötig waren. Damals in der mittleren Steinzeit begann bei den Vorfahren des Menschen die Evolution einer Technologie, die auf echter, auf Abstraktion begründeter Kultur fußte.
Als Nächstes kamen durchlöcherte Muschelschalen, die wohl als Anhänger an Ketten um den Hals getragen wurden, des Weiteren immer raffiniertere Werkzeuge, darunter sorgfältig geformte Knochenpfeilspitzen. Am erstaunlichsten sind dabei gravierte Ocker-Stücke. Ein 77.000 Jahre altes Exemplar zeigt drei geritzte Linien, die eine Reihe von neun X-Zeichen verbinden. Was und ob es überhaupt etwas bedeutete, wissen wir nicht, aber dass es sich um ein abstraktes Muster handelt, scheint klar.
Mit Bestattungen wurde vor mindestens 95.000 Jahren begonnen, wie eine Ausgrabung von dreißig Individuen in der israelischen Qafzeh-Höhle belegt. Einer der Toten, ein neunjähriges Kind, wurde mit gebeugten Beinen und einem Hirschgeweih in den Armen bestattet. Allein schon diese Anordnung verweist nicht nur auf ein abstraktes Todesbewusstsein, sondern auf eine Form existenzieller Angst. Bei zeitgenössischen Jägern und Sammlern ist der Tod ein Ereignis, das mit Hilfe von Zeremonie und Kunst bewältigt wird.
Die Anfänge der heute praktizierten bildenden Kunst werden vielleicht für immer ein Rätsel bleiben. Jedenfalls waren sie durch die genetische und kulturelle Evolution so weit eingerichtet, dass es vor etwa 35.000 Jahren in Europa zur «kreativen Explosion» kommen konnte. Von damals an und mehr als 20.000 Jahre lang bis in die späte Altsteinzeit blühte die Höhlenmalerei. In über zweihundert Höhlen beiderseits der Pyrenäen in Südwestfrankreich und Nordostspanien wurden Tausende Figuren, meist Großwild, gefunden. Zusammen mit Felsenzeichnungen aus anderen Erdteilen stellen sie eine verblüffende Momentaufnahme des Lebens kurz vor dem Aufkommen der Zivilisation dar.
Der Louvre der altsteinzeitlichen Höhlenmalerei ist die Grotte Chauvet in der südfranzösischen Ardèche. Das Meisterstück dort stammt aus der Hand eines einzelnen Künstlers, der mit rotem Ocker, Holzkohle und Gravuren eine Herde aus vier parallel laufenden Individuen einer damals in Europa heimische Wildpferdart schuf. Dargestellt sind nur ihre Köpfe, aber jedes Tier ist ein eigener Charakter. Die Tiere sind dicht gedrängt und schräg angeordnet, als würde man sie leicht von oben links betrachten. Die Ränder der Mäuler wurden als Basrelief herausgemeißelt, um sie markanter zu machen. Genaue Analysen haben ergeben, dass verschiedene Künstler zunächst zwei männliche Nashörner im Zweikampf malten, dann zwei Auerochsen, die einander den Rücken zuwenden. In den verbleibenden Freiraum dazwischen setzte dann der Einzelkünstler seine kleine Pferdegruppe.
Die Nashörner und Auerochsen wurden auf ein Alter von 32.000 bis 30.000 Jahren datiert, und man hatte zunächst angenommen, dass die Pferde genauso alt sind. Doch die Eleganz der Pferde und die offenbar benutzte Technik bringen einige Experten heute dazu, sie ins Magdalénien zu datieren, also zwischen 17.000 und 12.000 vor heute. Dann würde ihre
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