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Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Titel: Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward O. Wilson
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urteilen. Der Kampf, der im Gehirn jedes Menschen tobt und den die breite Überwölbung der kulturellen Evolution widerspiegelt, ist der Urquell der Geisteswissenschaften. Einen Shakespeare in der Ameisenwelt beträfe dieser Krieg zwischen Ehre und Verrat nicht; er läge in den Ketten der starren Befehle des Instinkts und verfügte lediglich über ein winziges Repertoire an Gefühlen. So könnte er nur ein einziges Schauspiel des Triumphs und eines der Tragödie schreiben. Jeder gewöhnliche Mensch dagegen kann endlos verschiedene solche Geschichten erfinden und eine unbegrenzte Symphonie von Stimmungen und Launen komponieren.
    Was genau sind dann eigentlich die Geisteswissenschaften? Ein ernsthafter Definitionsversuch findet sich im US-Bundesgesetz von 1965, das die staatlichen Stiftungen für Geisteswissenschaften (NEH) und für Kultur und Kunst (NEA) einrichtete:
    Der Begriff «Geisteswissenschaften» umfasst, beschränkt sich aber nicht auf das Studium folgender Gebiete: moderne und klassische Sprachen, Linguistik, Literatur, Geschichte, Rechtswissenschaften, Philosophie, Archäologie, komparative Theologie, Ethik, Geschichte, Kritik und Theorie der Kunst; außerdem diejenigen Aspekte der Sozialwissenschaften, die humanistische Inhalte und humanistische Methoden verwenden; sowie Studium und Anwendung der Geisteswissenschaften auf die Umwelt des Menschen mit besonderer Rücksicht auf die Wiedergabe unseres unterschiedlichen Erbes, der Traditionen und der Geschichte sowie auf die Relevanz der Geisteswissenschaften für die heutigen Bedingungen des staatlichen Lebens.
    Diese Gebiete also umfassen die Geisteswissenschaften – doch kein Wort über das Verständnis der kognitiven Prozesse, die sie alle einen, nichts über ihr Verhältnis zur erblichen Natur des Menschen oder zu ihrem prähistorischen Ursprung. Wir werden die Geisteswissenschaften nie in voller Reife erleben, solange diese Dimensionen fehlen.
    Seit dem Ende der Aufklärung Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts steckt die Vernetzung der Geistes- und Naturwissenschaften in einer Sackgasse. Einen möglichen Ausweg daraus bietet etwa ein Vergleich der kreativen Prozesse und Darstellungsformen von Literatur und wissenschaftlicher Forschung. Und das ist sogar weniger schwierig, als es zunächst scheint. In beiden Gebieten sind die Innovatoren im Grunde Träumer und Geschichtenerzähler. In den frühen Schaffensstadien hat sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft alles im Kopf die Gestalt einer Geschichte. Irgendwo gibt es eine Vorstellung davon, wie es ausgehen soll, und vielleicht einen Anfang sowie verschiedene Bruchstücke und Bauteile, die dazwischenpassen könnten. In der Literatur wie in der Wissenschaft ist jeder Baustein austauschbar; allerdings wirkt sich ein Wechsel auf die anderen Teile aus, einige fallen weg, andere treten hinzu. Die übrigen Bausteine werden zusammengesetzt, untergliedert und verschoben, während sich die Geschichte herausschält. Ein Szenario klärt sich, dann ein anderes. Und diese Szenarien, die literarischen genauso wie die wissenschaftlichen, stehen im Wettbewerb miteinander. Wörter und Sätze (oder Gleichungen und Experimente) werden getestet. Schon früh konzipiert man ein Ende für den gesamten Gedankengang. Ein erstaunliches Ende (oder ein wissenschaftlicher Durchbruch). Aber ist es das Beste, und ist es wahr? Zu einem passenden Ende zu kommen, ist das Ziel des kreativen Geistes. Doch egal, worum es geht, wo es liegt, wie es zum Ausdruck gebracht wird, es beginnt immer als Phantom, das bis zum letzten Augenblick vielleicht noch verblasst und ausgetauscht wird. An den Rändern huschen mit Worten nicht greifbare Gedanken umher. Wenn die brauchbarsten Bruchstücke sich herauskristallisieren, werden sie nach und nach in eine Ordnung gebracht, und die Geschichte nimmt Form an, wächst und erreicht ihr stimmiges Ende. Flannery O’Connor fragte ganz richtig im Namen aller literarischen und wissenschaftlichen Autoren: «Woher soll ich wissen, was ich meine, bevor ich sehe, was ich sage?» Der Romancier fragt: «Funktioniert das?», und der Wissenschaftler: «Kann das irgend wahr sein?»
    Ein erfolgreicher Naturwissenschaftler denkt wie ein Dichter, aber er arbeitet wie ein Buchhalter. Er schreibt für Gleichgesinnte, in der Hoffnung, dass Wissenschaftler mit hohem Status, solche also, die selbst aufgrund ihrer Leistungen hoch angesehen sind, seine Entdeckungen akzeptieren. Nichtwissenschaftlern ist selten klar,

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