Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
wie wissenschaftlicher Fortschritt entsteht: Die Anerkennung der Kollegen ist dafür genauso wichtig wie die fachliche Korrektheit. Reputation ist die bare Münze einer wissenschaftlichen Karriere. Wie die Filmlegende James Cagney beim Empfang einer Auszeichnung für sein Lebenswerk könnte auch ein Wissenschaftler sagen: «In diesem Business bist du immer nur so gut, wie die anderen meinen.»
Langfristig aber steht und fällt wissenschaftliche Reputation mit der Anerkennung für echte Entdeckungen. Schlussfolgerungen werden wiederholt geprüft, und sie müssen der Überprüfung standhalten. Das Datenmaterial muss einwandfrei sein, oder die Theorien zerfallen in Stücke. Von anderen aufgedeckte Fehler können eine Reputation ruinieren. Bestrafung wegen Betrug ist ein regelrechtes Todesurteil – für den guten Ruf und für die weitere Karriere. In der Literatur wäre das äquivalente Kapitalverbrechen Plagiat. Betrug aber ist hier geduldet. In der Belletristik wie in anderen Künsten wird erwartet, dass die Phantasie freien Lauf hat. Und solange sie sich als ästhetisch gefällig oder sonst wie anregend erweist, wird sie gefeiert.
Der entscheidende Unterschied zwischen literarischem und wissenschaftlichem Schreibstil ist der Einsatz von Metaphern. In wissenschaftlichen Texten sind Metaphern in gewissem Ausmaß zulässig – solange sie unaufdringlich bleiben und vielleicht einen Hauch Ironie oder Selbstironie enthalten. Folgendes etwa wäre in der Einleitung oder der Diskussion eines Forschungsberichts denkbar: «Wenn sich dieses Ergebnis erhärtet, wird es unseres Erachtens den Weg freimachen für weitere fruchtbare Untersuchungen.» Nicht erlaubt ist: «Wir gehen davon aus, dass dieses Ergebnis, das uns ein hartes Stück Arbeit abverlangt hat, geradezu eine Quelle wird, der mit Sicherheit viele wasserreiche Ströme neuer Forschung entspringen werden.»
Entscheidend in der Wissenschaft ist die Bedeutsamkeit der Entdeckung. In der Literatur sind es die Originalität und die Macht der Metapher. Wissenschaftliche Texte fügen unserem Wissen über die materielle Welt ein überprüftes Stück hinzu. Poetischer Ausdruck in der Literatur dagegen ist ein Hilfsmittel, um Emotion direkt vom Schreiber zum Leser zu kommunizieren. Dieses Ziel kennt ein wissenschaftlicher Text nicht; hier will der Autor den Leser durch Beweis und Argumentation von der Gültigkeit und der Bedeutung der Entdeckung überzeugen. In der Fiktion muss die Sprache umso poetischer sein, je drängender das Bedürfnis ist, Emotionen mitzuteilen. Im Extremfall mag die Aussage offensichtlich falsch sein, wenn Autor und Leser es eben so wollen. Für den Dichter geht die Sonne im Osten auf und im Westen unter, und dabei zeichnet sie unseren Tageszyklus nach, ist Symbol für die Geburt, den Zenit des Lebens, für Tod und Wiedergeburt – und das alles, obwohl die Sonne sich de facto überhaupt nicht bewegt. Nur stellten sich unsere frühen Vorfahren eben die Himmelssphäre und den Sternenhimmel so vor. Sie verbanden seine zahlreichen Rätsel mit den Rätseln ihres eigenen Lebens und hielten sie über Jahrhunderte in heiligen Schriften und in der Poesie fest. Es wird noch lange dauern, bis ein solcher literarischer Ehrenplatz dem wirklichen Sonnensystem zukommt, in dem die Erde sich auf einer Laufbahn um einen eher zweitrangigen Stern dreht.
Zu dieser anderen Wahrheit, also der besonderen Wahrheit, die die Literatur anstrebt, fragt E. L. Doctorow:
Wer würde denn für einen «echten» historischen Bericht auf die Ilias verzichten? Natürlich trägt der Schriftsteller, sei es als feierlicher Dolmetscher oder als Satiriker, eine Verantwortung dafür, dass seine Komposition einer klaren Wahrheit dient. Aber das verlangen wir von allen Künstlern, gleichgültig in welchem Medium. Außerdem weiß der Leser eines Romans, in dem eine bekannte öffentliche Gestalt etwas sagt und tut, was sonst nirgends bezeugt ist, dass er einen fiktiven Text liest. Er weiß, dass der Autor mit dieser Lüge einer höheren Wahrheit zu dienen hofft, als der reine Tatsachenbericht sie liefern kann. Der Roman ist ein ästhetisches Werk, das eine öffentliche Gestalt in ihrem Porträt genauso interpretiert, wie es ein Porträt auf einer Leinwand tut. Der Roman wird nicht gelesen wie die Zeitung; er wird gelesen, wie er geschrieben wird, im Geist der Freiheit. [ 71 ]
Picasso fasste denselben Gedanken so zusammen: «Kunst ist die Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt.»
Kunst als
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