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Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)

Titel: Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward O. Wilson
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Entstehung in die gleiche Zeit wie die großartigen Höhlenmalereien im französischen Lascaux und im spanischen Altamira fallen.
    Abgesehen von der genauen Datierung der Herde in der Grotte Chauvet bleibt auch ungewiss, welche bedeutende Funktion die Höhlenmalerei hatte. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, die Höhlen hätten als eine Art Proto-Kirchen gedient, in denen sich die Menschengruppen zur Anbetung der Götter versammelt hätten. Die Böden sind bedeckt mit den Überresten von Feuerstellen, Tierknochen und anderen Belegen für längere Bewohnung. Die ersten Vertreter des Homo sapiens kamen vor etwa 45.000 Jahren nach Mittel- und Osteuropa. Höhlen dienten in dieser Zeit offenbar als Unterschlupf, in denen die Menschen die harten Winter der Mammutsteppe überstehen konnten, deren Grasland sich unterhalb der kontinentalen Gletscherplatte über das gesamte Eurasien und bis in die Neue Welt erstreckte.
    Vielleicht, so argumentierten einige Autoren, sollten die Höhlenmalereien wohlwollenden Zauber beschwören und den Jagderfolg mehren. Diese Vermutung stützt die Tatsache, dass die dargestellten Gestalten überwiegend große Tiere sind. Zudem zeigen 15 Prozent der Malereien Tiere, die mit Speeren oder Pfeilen verletzt wurden.
    Ein zusätzliches Argument für eine rituelle Funktion der europäischen Höhlenmalerei stellt die Entdeckung eines Motivs dar, das wahrscheinlich einen Schamanen mit einer Hirschmaske zeigt oder vielleicht mit einem echten Hirschkopf. Erhalten sind weiterhin Skulpturen von drei «Löwenmännern» mit Menschenkörper und Löwenkopf – Vorläufer der Chimären, halb Tier und halb Gott, wie sie in der Frühgeschichte des Nahen Ostens auftauchten. Zugegebenermaßen haben wir keine stichhaltige Vorstellung davon, was die Schamanen taten oder wofür die Löwenmenschen standen.
    Eine konträre Meinung über die Rolle der Höhlenmalerei vertritt der Naturforscher R. Dale Guthrie, dessen Hauptwerk The Nature of Paleolithic Art die gründlichste Veröffentlichung zu diesem Thema überhaupt ist. Fast die gesamte Malerei lässt sich, so Guthrie, als Darstellung des Alltags im Aurignacien und Magdalénien deuten. Die dargestellten Tiere gehören den Arten an, die von den Höhlenbewohner regelmäßig gejagt wurden (und einige wenige, etwa Löwen, jagten vielleicht auch umgekehrt die Menschen). Jedenfalls kamen sie ganz selbstverständlich regelmäßig in Gesprächen und visueller Kommunikation vor. Außerdem finden sich mehr menschliche Gestalten oder zumindest Teile der menschlichen Anatomie, als üblicherweise in Veröffentlichungen zur Höhlenmalerei genannt werden. Diese Gestalten sind gewöhnlich zu Fuß unterwegs. Häufig schufen die Bewohner Schablonendrucke, indem sie ihre Hände auf die Wände hielten und mit dem Mund Ockerpuder daraufsprühten, so dass die Umrisse der gespreizten Finger zu sehen blieben. Die Größe der Hände weist darauf hin, dass das überwiegend Kinder taten. Darüber hinaus finden sich recht viele Graffiti, bedeutungslose Kritzeleien, darunter häufig grobe Darstellungen männlicher und weiblicher Genitalien. Es gibt Skulpturen grotesk dickleibiger Frauen, vielleicht Opfergaben an die Geister oder Götter, um die Fruchtbarkeit zu fördern – die kleinen Verbände brauchten so viele Nachkommen wie möglich. Andererseits könnten die Skulpturen ganz einfach auch eine übertriebene Darstellung der fülligen Gestalt sein, nach der sich die Frauen in den häufig harten Wintern der Mammutsteppe sehnten.[ 73 ]
    Die utilitaristische Theorie der Höhlenmalerei, der zufolge die Gemälde und Gravuren das Alltagsleben darstellen, ist mit großer Wahrscheinlichkeit zum Teil korrekt, aber nicht ganz ausreichend. Nur wenige Experten berücksichtigen, dass, um ein ganz anderes Gebiet zu nennen, zur gleichen Zeit die Musik aufkam. Das spricht dafür, dass zumindest einige der Malereien und Skulpturen im Leben der Höhlenbewohner sehr wohl eine magische Komponente hatten. Einige Autoren argumentieren, dass die Musik aus darwinscher Perspektive nicht von Bedeutung war, dass sie als Nebenprodukt der Sprache gleichsam ein «auditiver Käsekuchen» sei, wie ein Autor es einmal formulierte. In der Tat haben wir nur sehr spärliche Belege dafür, worin die Musik selbst bestand – so wie wir übrigens selbst von der griechischen und römischen Musik keine Notierung und deshalb keine Überlieferung besitzen und lediglich die Instrumente kennen. Musikinstrumente aber gab es schon früh in

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