Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen (German Edition)
der Periode der kreativen Explosion. Gefunden wurden «Flöten» aus Vogelknochen, technisch wohl besser als Pfeifen zu bezeichnen, die 30.000 Jahre oder älter sind. Im französischen Isturitz und an anderen Fundorten wurden etwa 225 vermeintliche Pfeifen registriert, bei einigen davon ist freilich die Authentizität nicht gesichert. An den besterhaltenen Instrumenten finden sich Fingerlöcher, die auf einer gerundeten schrägen Linie so angeordnet sind, dass sie anscheinend zu den Fingern einer menschlichen Hand passen. Außerdem sind die Löcher so abgekantet, dass die Fingerspitzen sie dicht verschließen können. Der moderne Flötist Graeme Lawson spielte auf einer Nachbildung einer solchen Pfeife, aber natürlich ohne steinzeitliche Noten.
Auch weitere bei Ausgrabungen gefundene Artefakte lassen sich plausibel als Musikinstrumente interpretieren, beispielsweise feine Feuersteinscheiben, die zusammen aufgehängt werden und beim Aneinanderschlagen angenehme Klänge produzieren wie ein Windspiel. Vielleicht ist es auch nur ein Zufall, aber die Wandbereiche, auf denen die Malereien angebracht wurden, werfen faszinierende Echos zurück.[ 74 ]
War Musik ein darwinsches Evolutionskriterium? Trug sie für die altsteinzeitlichen Stämme, die sie praktizierten, zum Überlebenserfolg bei? Untersucht man die Gebräuche heutiger Jäger-und-Sammler-Kulturen weltweit, so kann man kaum zu einem anderen Schluss kommen. Gesänge, gewöhnlich begleitet von Tänzen, sind nahezu universell. Und da die australischen Aborigines seit der Ankunft ihrer Vorfahren vor etwa 45.000 Jahren isoliert waren, ihre Gesänge und Tänze aber grundsätzlich denen anderer Jäger-und-Sammler-Kulturen ähneln, lässt sich begründet annehmen, dass sie auch denen ähneln, die schon ihre altsteinzeitlichen Vorfahren praktizierten.
Anthropologen schenken normalerweise der Musik heutiger Jäger und Sammler nur wenig Beachtung und überlassen das eher Musikspezialisten; ähnlich halten sie es auch mit Linguistik und Ethnobotanik (dem Studium der Pflanzen, die die Stämme nutzten). Dabei sind Gesang und Tanz wichtige Elemente aller Jäger-und-Sammler-Gesellschaften. Zudem werden sie üblicherweise kollektiv praktiziert und betreffen ein weites Spektrum an Lebenssituationen. Die Lieder der gut untersuchten Inuit, Pygmäen im Gabun und der Aborigines von Arnhemland sind in ihrem Detailreichtum und ihrer Komplexität durchaus vergleichbar mit denen der fortgeschrittenen modernen Zivilisationen. Die Musik moderner Jäger und Sammler dient generell als Hilfsmittel zur Belebung ihres Alltags. Inhaltlich behandelt sie Geschichten und Mythen des Stammes sowie praktisches Wissen über Land, Pflanzen und Tiere.
Besonders wichtig für die Interpretation der Wildmotive in der europäischen altsteinzeitlichen Höhlenmalerei ist der Umstand, dass die Tänze moderner Stämme überwiegend die Jagd betreffen. Sie handeln von verschiedenen Beutetieren; sie rufen die Jagdwaffen und die Hunde an; sie beruhigen die Tiere, die sie getötet haben oder gleich töten werden; und sie huldigen dem Land, auf dem sie jagen. Sie erinnern und feiern erfolgreiche Jagdzüge der Vergangenheit. Sie ehren die Toten und bitten um die Gunst der Geister, die ihre Geschicke lenken.
Es ist ganz selbstverständlich, dass die Gesänge und Tänze zeitgenössischer Jäger- und Sammlervölker sowohl auf individueller als auch auf Gruppenebene wirken. Sie einen die Stammesmitglieder, schaffen gemeinsames Wissen und eine gemeinsame Zielsetzung. Sie schüren die Bereitschaft zu leidenschaftlichem Einsatz. Sie nutzen Mnemotechniken, stimulieren und fördern die Erinnerung an Informationen, die dem Stamm insgesamt nützlich sind. Und nicht zuletzt verleiht die Kenntnis der Lieder und Tänze denjenigen Stammesmitgliedern Macht, die sie am besten beherrschen.[ 75 ]
Musik zu ersinnen und zu praktizieren, ist ein menschlicher Instinkt und eine der echten Universalien unserer Spezies. Ein extremes Beispiel beschreibt der Neurowissenschaftler Aniruddh D. Patel mit dem kleinen Stamm der Pirahã im brasilianischen Amazonasgebiet: «Die Mitglieder dieser Kultur sprechen eine Sprache ohne Zahlen oder das Konzept des Zählens. Ihre Sprache kennt keine festen Begriffe für Farben. Sie haben keine Schöpfungsmythen, und sie zeichnen nichts als einfache Strichmännchen. Doch Musik haben sie jede Menge, Musik in Form von Liedern.»[ 76 ]
Patel bezeichnet die Musik als «transformative Technologie». Im gleichen
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